Ein Vater steht mit seiner kleinen Tochter vor der „Venus von Milo“ und sagt: „Siehst

du, der Künstler wollte zeigen, wie es herauskommt, wenn kleine Mädchen nicht aufhören wollen, an den Fingernägeln zu nagen.“

Der Witz kann helfen, Simona Deflorins Bilder besser zu verstehen: Der Vater verweist mit seinem Diktum – natürlich ohne dies zu wissen – auf die interessante Tatsache, dass die zeitbedingt entstandenen Veränderungen eines Kunstwerkes bei diesem mitzureden beginnen. Sie ergänzen die Information (oder die „Aussage“), die das Werk in sich trägt, und nach dem Überschreiten einer besonders delikaten und interessanten Grenze ersetzen sie sie sogar.

Simona Deflorin mag sich an eben dieser Grenze aufgehalten haben, als sie Leinwände zerschnitt und wieder zusammennähte, und zwar so, dass die Nähte als bildgebende Motive einbezogen werden konnten – als Narben. Es sind deutlich Narben der Bilder, nicht der dargestellten Menschen. In der Wahrnehmung verbinden sie sich aber zu dem, was man über Narben weiß. Die Ver-bindung kommt auf einer von der Künstlerin präzise eingefassten Assoziationsbahn zustande: Sie wählt als Vorlagen für ihre Bildinhalte Fotografien aus, die ungefähr ein Jahrhundert alt sind und die ästhetisch somit auf einen ethnographischen Kontext verweisen, der inzwischen ebenfalls untersucht und vielfältig gedeutet wurde. In diesen Kontext passen – auch in der nicht spezialisierten Wahrnehmung – Schmuck- und Initiationsnarben. Die Künstlerin weiß natürlich, dass sich solche Narben in dem Kulturkreis, in dem sie sich bewegt, hauptsächlich medial übermittelt präsentieren – was wiederum dem Prozess des Verarbeitens gerade dieser Bildvorlagen entspricht:

Die Bilder provozieren schwierige Fragen an die wackeligen ethnographischen Konzepte, die jeder Betrachter bewusst oder (meistens) unbewusst mit sich herumschleppt.

Die vernarbten Leinwände tragen ebenfalls zur unmittelbaren Materialität der Bilder bei, ein Thema, das sich wiederum zur ins Ikonografische gewendeten Darstellungsweise fügt. Es entsteht eine Grundspannung zwischen der Materialität der Bilder und den Evokationen der dargestellten Bildinhalte. Diese Auseinandersetzung schließt das bloße Kokettieren mit „exotischen“ Bildinhalten aus: Simona Deflorin erstellt nicht eine lediglich auf ihre ästhetische Oberfläche reduzierte Chinoiserie, sondern sie tritt über den Weg einer genauen Ikonografie in Motiv und Technik in bisher verborgene Möglichkeiten und Wege ihrer eigenen (Selbst-)Wahrnehmung ein.

 

David Wohnlich