Die Bilder des georgischen Künstlers Rocko Iremashvili sind radikal. Die zentralen Ge­stal­ten seiner Bilder scheinen sich in Traum­welten zu befinden. Emotionalität, Zerris­sen­heit und Intensität finden sich immer im Duktus des Künstlers. Als Betrachter fühlt man sich gezwungen, auf die Details zu achten. Es darf also spekuliert werden, dass nur die genaue Beobachtung die Rätsel in Iremashvilis Bildern zu lösen vermag. Wie ein Traumwandler begibt sich der Be­trach­ter mit gemischten Gefühlen auf die Suche nach einem Sinn im Wirrwarr dieser Welten.

Exemplarisch in seinem Oeuvre ist das Werk Zwischen Himmel und Erde aus dem Jahr 2009.

Das 150 x 290 cm große Ölbild führt den Betrachter direkt in einen verzweifelten Kampf: zwei im Profil dargestellte, männ­liche Figuren ziehen mit aller Kraft an einem Seil in die jeweils entgegengesetzte Rich­tung. Die zwei links und rechts im Bild platzierten Figuren werden nur durch eine Glas­scheibe getrennt, das Seil wiederum verbindet sie. Der links Platzierte ist völlig entkleidet und vereinnahmt zwei Drittel des Bildes und scheint durch seine dynamische, nach vorne schreitende Position die aktivere der zwei Gestalten zu sein. Sein Knie ruht auf einer Grasfläche, hinter ihm befindet sich ein gelber Sessel. Die zweite männliche Gestalt besetzt den rechten Teil des Bildes. Dieser ist mit einer schwarzen Hose und einem grünen Shirt bekleidet. Die Schuhe nehmen den Farbton des Oberteils wieder auf. Mit seinem linken Fuß durchdringt er die Scheibe, ohne sie zu zerstören, und stemmt sich gegen den Sessel. Er sitzt auf einem schwarz-weiß karierten Boden und neigt sich mit seinem stark nach hinten gebeugten Oberkörper auf die rechte Seite. Sein Blick ist nach oben gerichtet.

Die Gesichter beider Figuren sind verzerrt, gerötet und zeugen von großer An­stren­gung. Wo genau sich diese zwei Figuren befinden, ist nicht auszumachen. Im Hin­ter­grund erkennt man zwei sich horizontal erstreckende Flächen, die obere ist blau, die untere schwarz gehalten. Auf den ersten Blick meint man einen Horizont zu erkennen, doch schaut man genauer, entdeckt man die Naht, die diese beiden Flächen, ähnlich zweier notdürftig zusammengeflickter Stücken Stoff, zusammenhält. Asso­zia­tio­nen zu Zelten kommen auf.

Wie fügen sich diese komplexen Beobach­tungen nun zusammen? Bei näherer Be­trach­tung fällt auf, dass die beiden Figuren dasselbe Antlitz haben. Es ist zu vermuten, dass es sich um dieselbe Person handelt, in der sich eine innere Zerrissenheit zu manifestieren scheint. Das eine Ich lehnt sich gegen das andere Ich auf. Doch lässt die Vielschichtigkeit in Rocko Iremashvilis Werk keine eindeutige Auslegung zu. Der Künst­ler gibt dem Betrachter die Mög­lichkeit einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Dargestellten. Warum ist die eine Figur nackt, die andere hingegen bekleidet? Wa­rum ist die Grenze zwischen diesen Welten so fragil, dass sie zerbrochen werden kann. Hat sich die Position des Individuums in eine bestimmte Richtung verlagert? Ist der innere Zusammenhalt verloren gegangen?

Handelt es sich überhaupt um zwei Welten? Oder spielt sich alles in einem Kosmos, unter einem Himmelszelt ab?

Das malerische Werk Rocko Iremashvilis hat immer wieder bewiesen, dass Symbolik ein wichtiges Element seiner Bilder ist. Hier macht er keine Ausnahme. Demzufolge könn­te der Nackte dem Bekleideten hier als Symbol für Reinheit, Wahrheit und Un­verstellbarkeit gegenüberstehen1; im Kampf – wie der Künstler selbst verrät – zwischen der materiellen und geistigen Welt.

Der Verzicht auf Kleidung kann auch als voll­kommene Entblößung des Selbst gedeutet werden, als Entblößung seiner Ge­dan­ken. Der Künstler offeriert uns tiefe Ein­blicke in sein Seelenleben, in die Un­ord­nung, die in seinem Kopf vorzuherrschen schein.

 

Fremdkörper

Auf eine gegenständliche Art und Weise führt der Künstler uns weiter ins Innere: Kunst­harz-Köpfe, in deren Innerem deplatziert wirkende Fremdkörper sind. Objekte, die dort offensichtlich nichts zu suchen haben, sind in die Gehirngegend gepresst: Futter, Beleuchtung, eine Schlange.

Ob es sich hierbei um eine politisch-gesellschaftliche Äußerung oder einen persönlichen Konflikt handelt, mag man nur vermuten.

Im Gespräch öffnet sich der Künstler und weist darauf hin, ein Gefühl des Eingepferchtseins, eine Klaustrophobie empfunden zu haben, als er nach einem Aus­lands­semester in seine Heimat zurückkehrte. Er stellte sich plötzlich einer Enge entgegen, der er zu entfliehen versuchte. Kann man diese Empfindung in seinen Werken wiederfinden?

Freilich ist das Ergebnis düster, stark symbolisch und intensiv. Seine Werke seien je­doch nicht politisch, betont Iremashvili. Hierbei handele es sich vielmehr um ein allgegenwärtiges Gefühl, das Menschen überall treffen bzw. betreffen könne. So kann es hervorgerufen werden durch staatliche Maß­nahmen, äußere Umstände oder persönliche Erlebnisse. Sicherlich ließe sich eine Spur seiner Herkunft – Iremashvili ist ein Mensch, der Krieg aus eigener Erfah­rung kennt und Unglück erleben musste – in seinen Bildern finden. Jedoch verlassen seine Werke die biografische Ebene.

Er fordert den Betrach­ter nur dazu auf, in diese Bildräume einzutreten und sie zu durch­zustreifen. Eine Auf­gabe, die auf den ersten Blick leichter zu sein scheint, als es sich am Ende herausstellt. Meint man eine Richtung oder einen Sinn entdeckt zu ha­ben, so häufen sich augenblicklich Dis­so­nan­zen und Wider­sprüche, die den Be­trach­ter wieder in eine Orientie­rungs­losigkeit entlassen. Der Blick verliert sich im Tumult der Requisiten und Symbole, Farben und Formen.

 

Gemischte Gefühle

Farben und Formen sind es auch, denen wir am jüngsten Punkt seiner künstlerischen Ent­wicklung begegnen. Diese Weiter­ent­wick­lung mag in Anbetracht seiner vorherigen Arbeiten für manche unerwartet kommen. Das Figürliche wird durch eine völlige Abstraktion ersetzt.

Auf weißem Grund vermischen sich verschiedene Farben zu einer inhomogenen Masse. Wie auf die Leinwand geschüttet schei­nen sie sich von der Mitte des Bildes in die äußeren Partien zu verteilen. 

Wasser sei die Thematik dieser neuen Ar­bei­ten, so der Künstler: Wasser ist hier jedoch nicht als natürliches Element zu verstehen, sondern als formlose Kraft, die sich in un­ter­schiedlichen Facetten zu zeigen vermag. So strömen die Gedanken wie Wasser in verschiedene Richtungen und nehmen wie Gefühle und Farben verschiedene Formen an, ein Prozess findet statt, die Aus­ge­stal­tung bleibt offen.

Lediglich die Farben geben dem Betrachter ein Raster für seine Empfindung vor. Mit der reinen Kraft der Farbe schafft der Künst­ler es, Stimmungen hervorzurufen, gewissermaßen eine Visualisierung von Gefühlen – seiner eigenen? – zu erzeugen. Umso schwie­riger erweist es sich da, eine Rich­tung, einen Sinn oder eine Ordnung zu finden, da Farben bei jedem von uns verschiedene Assoziationen erwecken.

Ob man daraus schließen kann, dass es sich dabei um den Ursprung seiner tiefsten Ge­danken, Ängste oder Zerrissenheit handelt, bleibt dem Betrachter überlassen.

Hiermit würde sich der Kreis zu Zwischen Himmel und Erde schließen. Am Ende seiner Betrachtung bleibt der Rezipient mit gemischten Gefühlen zurück.

 

Melissa Klinckwort, Kunsthistorikerin

 

 

1 Becker, Udo: Lexikon der Symbole, Freiburg, 1992. S. 202.

Denn die wahre Kunst ist es,

sich innerlich frei zu fühlen

trotz äußerlicher Unfreiheit.

 

Rocko Iremashvili