… auch Abstraktion lebt aus dem Lebendigen. Die minimal variierte Zeile aus einem poetischen Exkurs zum Adolf-Hölzel-Kreis von Ingeborg Bauer mag zunächst irritieren: Das Diktum der Abstraktion scheint auf die Malerei von Christine Falk zuzutreffen, doch könnte man sich da schnell auf einen Holzweg begeben. Und dann ist da der weniger von der Ausstellung als von Bauers Buch evozierte Hölzelkreis, der vor rund 100 Jahren und darüber hinweg aktiv war. Lassen Sie mich das etwas entknoten, weil die moderne Kunst früh ihre Wurzeln sprießen ließ und die Abstrakte Kunst keineswegs vom unbeleckten Himmel gefallen ist. Mir geht es dabei weniger um Namen als um eine grundsätzliche Erkenntnis, die sich in der Tat am Kreis um Adolf Hölzel rasch gewinnen lässt. Adolf Hölzel richtete um die Jahrhundertwende eine Malschule in Dachau ein, bevor er 1905 nach Stuttgart als Professor berufen wurde, wo man glaubte einen realistisch malenden, von Barbizon inspirierten Künstler ins Haus geholt zu haben. Was dort niemand wusste war, dass Adolf Hölzel just in diesem Jahr 1905 ein weitgehend abstraktes Gemälde geschaffen hatte – es erwies sich als erstes dieser Art in Europa. (Kandinsky und all die anderen Aspiranten auf den Pioniertitel kamen später.) Wie auch immer: Der neue Professor, bekannt für seine unkonventionelle Lehre, wurde ein Wolf im Farbpelz, wie es sein berühmtester Schüler, Willi Baumeister, später notierte. Andere Schüler waren Oskar Schlemmer, Johannes Itten, Ida Kerkovius – ich nenne hier nur die, um anzudeuten, dass die Moderne hier ein Zentrum hatte, das mehr Wirkung zeigte wie der Blaue Reiter, die Brücke oder andere Strömungen in Deutschland.

Soviel vorweg. Wie hängt das nun mit Christine Falk zusammen? Wir haben noch immer ein Bild vor Augen von zwei Lagern: hier die Abstrakten, da die Figurativ-Gegenständlichen. Gerade Baumeister war ja auch in nahezu verbalkriegerische Auseinandersetzungen verwickelt, in welchem Lager die Zukunft der Kunst zu liegen habe. Das war ein ernstzunehmender Streit, aber er war unsinnig. Im Kreis um Hölzel war der Abstraktions-Diskurs irreführend, weil der Kurs in die Gegenstandslosigkeit eine Folge aus der figurativen Kunst war, kein Gegensatz. Christine Falk wehrt sich völlig zurecht, wenn sie als abstrakte Künstlerin bezeichnet wird. Ich komme noch einmal auf Adolf Hölzel zu sprechen – sein Weg weg vom Gegenstand ist derselbe, den die Künstler heute noch begehen, selbst wenn sie ihn nicht mehr theoretisch beschreiten müssen, wie es Hölzel getan hat. Der wollte nicht eigentlich abstrakt malen, sondern den realen Tiefenraum auf die Fläche übertragen – die Gesetzmäßigkeiten führten zwangsläufig vom Naturvorbild weg. Sein Schüler Willi Baumeister wischte ausdrücklich den von der Hochrenaissance erfundenen Perspektivraum vom Tisch, der unsere Sehgewohnheiten bis zum Ende des 19. Jahrhundert beeinflusst – oder soll ich sagen: beeinträchtigt hat. Er ging bis zur Vorrenaissance zurück, suchte Vorbilder bei Giotto & Co., und weiter zurück bis zur Höhlenzeichnung. Die Moderne, das vergessen viele Leute, ist näher am Ursprung als die sogenannte traditionelle Kunst. Cézanne und Van Gogh ahnten das, Baumeister wusste es. Und wie abstrakt ist die abstrakte Kunst? Die abstrakteste, die wirklich nur noch aus geometrischen Formen besteht, nannte sich nicht von ungefähr „Konkrete Kunst“, um zu sagen: Auch die pure Form bzw. Farbe ist wirklich.

Als Übergang ein Zitat, das ich auch dem Buch von Ingeborg Bauer entlehne. Nach Matthias Bärmann heißt es da: „Von der Wirklichkeit zum Ursprung der Wirklichkeit…: mitten hinein in den Pulsschlag von konkreter Erscheinung der Dinge – und Leere.“ Die gilt es zu füllen, und es gibt unzählige Möglichkeiten, das zu tun: Christine Falk hat einen ganz eigenen Weg gefunden. Die Berlinerin geht häufig mit der Fotokamera auf Ausschnittsuche und lotet diese dann malerisch aus. Eine Vorbilanz sei hier vorweggenommen: Falk erzielt mit ihrer fotomalerischen Vorgehensweise erstaunlich klare, ins Abstrakte reichende Bilder von lichter Schönheit und entschiedener formaler Reduktion. Thematisch besetzt die Künstlerin die klassischen Felder des Interieurs und des typisierten Architekturbilds – unabhängig von der kompositionellen und konzeptionellen Eigenständigkeit der Bildsprache. „So gesehen rückt das Abstrakte / in die Nähe der Figuration, / verliert sich der Widerspruch“, so Ingeborg Bauer in ihrem Buch „Wege in die Abstraktion – Lyrische Betrachtungen“.

Christine Falk ist eine Meisterin der ausgewogenen Form und eine Zauberin auf der Palette. Das sind ihre Mittel, mehr benötigt sie nicht. Da komme ich freilich erst recht nicht von Adolf Hölzel los. Der Maler, ich zitiere ihn noch einmal, „hat keine wirkliche Natur, die er ins Bild setzt oder pflanzt. … Für ihn ist der Baum kein Baum, der Mensch kein Mensch, das Haus kein Haus, alles setzt sich für ihn aus Linien, helleren, dunkleren und farbigeren Formen … zusammen. Alles, was wir darstellen … kann nur mit diesen Mitteln gegeben werden. Zuerst muss das Werk des Malers … ein abstraktes Bild sein und kann erst dann auch eine Darstellung werden“. Christine Falk baut ihre Bilder auf aus geometrischen Flächen, zieht klare Linien über die Leinwand, nahezu ausschließlich in Senkrechten und Waagerechten. Wo das stringente System minimal variiert wird, entsteht so etwas wie Raumbezug: dünne Gitter suggerieren Fensterkreuze, leichte Schrägen öffnen sich der dritten Dimension. Somit entsteht so ein Raumgefüge – und längst hat der Betrachter erkannt, dass es sich um Häuser in Detailansichten, Flachdächer, Ausschnitte von Stadtansichten, Interieurs handelt. Die Konstruktion geht so weit, dass sich der Flächen-Farb-Teppich zum ornamentalen Klangspiel verdichtet. Die Irritation lässt sich aber selbst da noch inhaltlich füllen, geht es in den hier gezeigten Bildern doch meist um Eindrücke von asiatischen Reisen, die uns womöglich auch ‚in echt‘ fremd vorkommen. Diese Distanz und zugleich die ästhetische Faszination machen die Balance aus, die in den Bildern vorherrscht. Auch das Licht ist so gesetzt, dass es als eigenes Bildelement ins Bildganze einfließt. Einen Kuschelkurs fährt Christine Falk jedoch nicht, bei aller Ausgewogenheit entsteht eine große Spannung zwischen dem großen, konkurrierenden Formenrepertoire; Disharmonien sind nicht zu vermeiden, Kontraste insbesondere in der Farbgebung drängen sich auf. Für ihre malerische Transkription „visueller Fundstücke“ (nach den Worten der Künstlerin) in die Fläche, die vom Titel klar beim Namen genannt sind, schafft Christine Falk wunderbare Bildräume, zuweilen scharf fokussiert wie Fotografien. Ich denke, dass die Wahrnehmung dessen, was dem Titel nach dargestellt wird, jene konkreten Orte, notwendig ist, um die inhaltlich-gegenständliche Vorgabe zu haben, welche dann formal-ästhetisch umgewandelt wird: mehr Utopie, also Nicht-Ort oder Leerstelle, als Fiktion – schließlich wird hier nicht versucht, die Illusion des genannten Orts vorzutäuschen. Die Leere der Bildmotive kommt zumal ins Spiel, sobald man gewahr wird, dass keine Menschen die Straßen bevölkern – eine fast meditative Stille fernab jeglicher Markt- oder Gassenschreierei ist der Eindruck, der übrigbleibt: ein schönes Gefühl.

… auch Abstraktion lebt aus dem Lebendigen. Sie sehen, die geometrisch verschlüsselten Ortsbeschreibungen von Christine Falk sind weniger abstrakt als man anfangs denkt. Die Kunst ist nicht abstrakt oder gegenständlich bzw. figurativ. Sie ist beides: abstrakt und konkret dinglich. Diese wechselwirksame Sicht zeigt sich in ihrer Lebendigkeit – denn eins ist klar: Es sind Menschen, die Kunst machen. Erfreuen Sie sich an den lebhaften Arbeiten von Christine Falk.

Günter Baumann

aus der Eröffnungsrede zu einer Ausstellung im Kunstverein Radolfzell, Dezember 2013