„Was immer schon ein Künstler in sich trägt,

Es hält der Marmorblock in harter Hülle.

Aus rohen Steines schwerer Überfülle

Löst es der Meißel, der zur Form es schlägt.“

 

Die erste Strophe eines Sonetts von Michelangelo kennzeichnet das Wesen der Skulptur, die klassischerweise aus dem Werkstoff herausgearbeitet wird. Demgegenüber wird die Plastik modelliert, es wird ihr etwas hinzugefügt.

Bei Ulrich Krämers dreidimensionalen, haptischen Bildwerken ist die Zuordnung etwas diffiziler, da  Elemente der Skulptur mit denen der Plastik buchstäblich verschmelzen. Seine Skulpturen kommen aus dem gegenständlichen und wenden sich der abstrakten Kunst zu. Es ist der Versuch, Skulpturen als reine Form aufzubauen, die Gestaltung plastischer Volumen ohne gegenständliche Bedeutung – von innen heraus wird das urhaft Keimende sichtbar. Die Skulpturen sind direkt vom Werkstoff abhängig, von den statischen Eigenschaften des Metalls, aber auch von seiner Oberfläche, sei sie rau oder glatt, hell oder dunkel. Je nach Ausdruck setzt der Bildhauer die verschiedenen Bearbeitungen ins Verhältnis zueinander und nutzt die uneingeschränkte Bildsamkeit des Materials.

Sind die Skulpturen in ihrer Abstraktheit auch inhaltsleer, so doch keineswegs banal. Einige erinnern an Tabernakel, bewahren jedoch nur die Träume und Sehnsüchte des Betrachters auf. Ihre Formensprache ist nicht sakral, sondern eher mystisch. Der Betrachter wird gefordert, sich seinen eigenen Zugang zu suchen. Titel, die Anhalt geben könnten, sucht man vergeblich.

Besonders in der gezeigten Werkserie befreit Ulrich Krämer vorhandene Gegenstände von ihrer „überflüssigen“ Hülle und gibt ihnen neue Formen – gleichwohl fügt er auch neues Material hinzu, modelliert, plastiziert.  Im Gegensatz zu seinen früheren, eigenschöpferischen Arbeiten, bei denen er neue Bleche verformte, sodass sie wie dem Meer oder Feuer entrissene Fundstücke aussahen, gibt er dem jetzigen Fundstück nun einen neuen Inhalt, eine abstrakte Form und stellt es in einen anderen Kontext zu seiner Umgebung. Dadurch ergibt sich ein neuer Spannungsbogen.

Diese Arbeitsweise des Entreißens und neu Zusammensetzens ist der des Schriftstellers Fernando Pessoa nicht fern. Wurden doch seine über Jahre gesammelten Eintragungen zu einem abstrakten Roman im „Buch der Unruhe…“ zusammengefügt, ähnlich den Kacheln eines portugiesischen Innenhofes, die zusammen einen inneren, in sich geschlossenen Raum ergeben. So schafft auch Ulrich Krämer neue in sich geschlossenen Räume, abseits der Sehgewohnheiten, die wir betrachten, mit denen wir aber auch in Dialog treten können.

Sabrina Buchholz