Es sind seltsame Gestalten, die sich da versammeln. Archaische, meist androgyne Figuren mit schweren Leibern und mit gekrümmter Haltung, mit zuweilen monströsen Extremitäten. Es sind Figuren, denen man in der Nacht nicht begegnen möchte. Alpträume nehmen durch diese Skulpturen Gestalt an – und doch: treten sie als Schattenfiguren hinaus ins Licht, in unser Bewusstsein, so bleibt von ihrer Erscheinung nur noch der Eindruck von schutzloser Nacktheit. Eine Nacktheit, die nicht allein durch die Darstellung bloßer oder kaum verhüllter Körper evoziert wird, sondern mehr noch durch die Haltung, die Gestik und die Mimik der Figuren, in denen sich physische und psychische Empfindungen wie Schmerzen, Leiden, Angst, Einsamkeit, aber auch Stolz, Sinnlichkeit und Lebenslust spiegeln.
„Durch meine Figuren“, sagt Lea Oetken, „versuche ich auszudrücken, wie ich die Menschen sehe, mit allen ihren Verletzungen, ihren seelischen Wunden und Narben, ihren Ecken und Kanten, aber auch mit ihren positiven Kräften und Energien, dem Humor, dem Witz.“
Lea Oetken malt ihre überlebensgroßen Figuren auf Sicherheitsglas im Format 200 x 80 cm. Indem sie wechselweise auf beiden Seiten malt, bemalte Partien auf der einen Seite wieder wegkratzt oder auf der anderen Seite freilässt, nutzt sie die Transparenz des Glases, reagiert sie im Aufbau der Formen, im Auftragen und in der Tonalität der Farben (meist Ocker, Orange, Gelb und Weiß) immer wieder auf das, was von der jeweils anderen Seite durchscheint, bis beides in Einklang ist. Von zwei Seiten her aufgebaut, verbinden sich so jeweils zwei deckungsgleiche, inhaltlich aber nicht kongruente Figuren zu einer plastischen Skulptur.
Lea Oetkens gemalte Plastiken entfalten ihre bildnerischen und skulpturalen Eigenheiten freilich erst, wenn sie frei im Raum stehen, rundum begehbar sind und so immer wieder auch die andere Seite ihres durch die Glasseite getrennten Wesens offenbaren. Mit beredter Gestik und Mimik halten sie Zwiesprache untereinander und fügen sich – den Intentionen der Künstlerin entsprechend – je nach Standort des Betrachters zu immer wieder neuen Gruppierungen zusammen. Wer sich als Galeriebesucher in diese Situation begibt, sich unter die überlebensgroßen Figuren mischt und sich so zu ihrem Partner macht, wird zwangsläufig selbst zum aktiven, die wechselnden Konstellationen mitbestimmenden Element der Rauminstallation.
Hanspeter Rederlechner