Dieser Raum ist ein Universum. Ein Universum ganz eigener Ordnung. Oder vielmehr: eine Galaxie. Also eine durch Gravitation gebundene Ansammlung. Von Sternen und  Planeten und Nebeln aus Gas. Oder, in unserem Fall: Von Bildern und Menschen. Wir selbst sind ja auch Teile dieser Galaxie.

Hier in unserer Galaxie ist es nur genau jetzt genau so, wie es jetzt ist. Denn jede und jeder von uns tut das, was jeder Stern, was jede Masse tut: Durch unsere blosse Anwesenheit verändern wir alles, verändern wir sozusagen das Raumzeitkontinuum. Es ist nur genau jetzt genau so wie jetzt. Verlässt auch nur einer oder eine von uns diesen Raum, ist es anders. Die Frage ist, mit welchem unserer Sinne wir diese Veränderung der Raumzeit erfassen. Wie auch immer - wenn es nur jetzt so ist, wie jetzt, dann lassen Sie uns die Gelegenheit nutzen und ein bisschen genauer hinsehen.

 

Jeder Planet, jedes Bild hat sein eigenes Gravitationsfeld. Aber es gibt einen thematischen Fixstern, um den alles kreist. Und zugleich wirken jede Menge Kräfte zwischen den Objekten dieser Galaxie: Zentrifugalkräfte, Magnetismus, Anziehung, Abstoßung. Manches leuchtet im Licht des anderen. Licht, Farben, Schatten, Linien, Flächen, Formen, Bewegungen. Perspektiven, die sich überlappen.

 

In der Mitte von allem, im Zentrum: der Fixstern. In der Form eines Allerheiligsten. Sein Innerstes ist verborgen vor allzu schnellen Blicken. Aber man kann hineingehen und sich dem Innersten aussetzen. Dort findet man das Menetekel - die alttestamentliche Prophezeiung aus dem Buch Daniel. Ein gespenstisches Ereignis. Es ist eine Party der Mächtigen im Gange. König Belsazar und seine Leute. Schöne Frauen, ein Gelage mit Besäufnis. Als alle betrunken sind, sehen sie eine Hand, eine Geisterhand ohne Körper, ohne Mensch dran. Und die schreibt mit den Fingern seltsame Worte an die Wand: Mene mene tekel u-parsin.

Alle erschrecken sich wahnsinnig, aber sie verstehen nicht. Bis Daniel kommt, der ihnen die Worte deuten kann. Mene mene tekel u-parsin. Daniel sagt: Mene: Gezählt, das heißt, Gott hat gezählt die Tage Deiner Königsherrschaft und sie beendet. Tekel: Gewogen, das heißt, Du wurdest auf der Waage gewogen und für zu leicht befunden. Peres (U-parsin): Zerteilt wird Dein Königreich und den Persern und Medern übergeben“.

Daniel erklärt dem König auch, warum Gott so entschieden hat: „Du hast all die silbernen, goldenen, ehernen, eisernen, hölzernen und steinernen Götter gepriesen, die weder sehen, noch hören, noch fühlen können. Den Gott aber, der deinen Atem und alle deine Wege in seiner Hand hat, den hast du nicht verherrlicht. Deshalb wurde von ihm diese Hand gesandt und diese Schrift geschrieben.“ Daraufhin lässt Belšazar Daniel in Purpur kleiden, mit Gold behängen und zum dritten Mann im Königreich ausrufen. Noch in derselben Nacht wird Belšazar umgebracht. Die Prophezeiung hat sich erfüllt.

Das Menetekel von Rocko Iremashvili geht durch die Zeiten, die jahrtausendealten Schriften, georgisch, hebräisch, bis heute, die Computerschrift. Das Menetekel war vor Urzeiten genauso gültig, wie heute.

 

Es ist Diagnose und Konsequenz: „Du hast die Götter gepriesen, die weder sehen, noch hören, noch fühlen können. Den Gott aber, der deinen Atem und alle deine Wege in seiner Hand hat, den hast du nicht verherrlicht.“ Darum geht es jetzt zu Ende mit dir.

 

Das Menetekel ist ein existentielles Prinzip - es gilt damals, wie heute, im kleinen, wie im großen, innen, wie aussen. In meiner Seele ebenso wie in der Welt, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik: Wenn Du das Leben verrätst, geht‘s Dir an den Kragen.

Egal, wo wir hinsehen, überall schreiben Geisterhände das das Menetekel an Wände. Überall verraten wir Leben. Manchmal, weil wir es einfach nicht besser wissen. Oft aber auch ganz bewusst, vor allem da, wo das Geld regiert.

 

Was ist das, mit dieser Prophezeiung? Wie kommen wir da raus? Kommen wir da überhaupt raus? Wollen wir da raus? Ist das Menetekel ein Fluch? Oder self-fulfilling-prophecy? Können wir vielleicht gar nicht anders? Ist es ein Fehler in der Matrix? Ist es Sünde?

 

Eine Suchbewegung. Hier kann man da ja einfach reingehen, in die Mitte, ins Allerheiligste. Der Prophezeiung gewahrwerden. Und gewahrwerden, dass sich neue Perspektiven auftun. Es tut sich ein Spalt auf und noch einer und noch einer, da kann man durchsehen und etwas sehen, das der Prophezeiung den Bann nehmen kann. Ausblicke.

 

Ich sehe das Essentielle, Ursubstanz allen Lebens: Das Meer. Schwarz-weiß, ineinander fließend. Gelenkter Zufall, die Bilder von Susanne Knaack. Schöpferischer Akt, organisches, fließendes Werden und gewolltes, bewusstes Lenken wirken zusammen. Meer, Himmel, Wolken, Schnee, Sand ... Archaisch-poetische Formen, die werden, vergehen, neu werden. Schwarz-weiß schillert in allen Farben.

 

Ich sehe die zärtliche Geste, die Hässliches und Brutales aufnimmt. Den unverstellten Blick auf Verletztes, auf Schmerz. Ich sehe verzweifelte Zärtlichkeit und wütende Liebe. Es sind mutige Orte, die Simona Deflorin aufsucht. Verschlagene Gesichter und brutale. Ausgesetzte, ausgestellte Wesen. Schutzlos. Eine Geste der Geborgenheit mit Katze, daneben Verträumtheit. Mit Schnüren verwickelte Geschwister. Sie flüstern nur noch. Verbandelt, verbunden, verwickelte Menschen, wie aus der Zeit gefallen, aus dem Himmel sowieso, aber sie atmen in diese Zeit hinein, manche nur noch sehr leise. Manche sind am Vergehen.

Und dann gibt es diese Leiber, sie präsentieren sich üppig und offensiv, with pleasure und sind doch durchscheinend, zart, leuchtend, verletzlich.

 

Ich sehe Landschaften und das Meer - wie Einladungen, sich hineinfallen zu lassen. Orte, die irgendwo sein könnten. Gedachte Landschaften von Hans-Georg Hofmann. Grün und blau entwickeln einen Sog, einen Strudel für die Augen, Tanz für‘s Gehirn. Hineinfallen. Mal sehen, wo man landet. Im Nichts. Oder irgendwo unterwegs. Vielleicht ist beides dasselbe.

 

Ich sehe universale Lebensprinzipien. Aufgeschrieben in der Bibel. Von Rocko Iremashvili über die Zeiten transportiert. Wir sind vom Himmel gefallen und aus dem Paradies verbannt. Leben aus dem Schmerz, Vertriebene zu sein.

Tun viel, um diesen permanenten Urschmerz nicht fühlen zu müssen. Siegen wollen, um jeden Preis. Das kostet viel. Verwundung, Versehrt sein, ich kann das Leben nicht besiegen, und wenn ich es versuche, komme ich irgendwann nur noch mit Krücken und Prothesen voran. Und blicke in verzweifeltem Protest nach oben in die himmlische Welt, da, wo ich herkomme, wo mal alles gut war.

Und doch sind es manchmal wohl gerade die Versehrten, die retten. Die alte Frau im Rollstuhl, den Schädel des brutalen Holofernes im Schoss - wie hat sie das nur gemacht? Womit hat sie ihn verführt?

 

Der Ausblick aus dem Menetekel zeigt Essenz, Bewegung, Zärtlichkeit, Brutalität, Wucht, Sinnlichkeit, Verletzbarkeit, Werden und Vergehen, Suche und Sehnsucht. Er zeigt die radikale Bereitschaft, sich vom Leben berühren zu lassen, in aller Konsequenz. Worum es letztlich geht ist das, was Du, Simona, mir gestern sagtest: es geht um Begegnung, „eine Begegnung mit der Leinwand, mit meiner Seele, mit der Erfüllung, mit dem Abschied, mit meiner Liebe, mit Gott, mit dem Tod.“

 

Diese Galaxie ist ein mutiger Ort.