Was überhaupt verstehen wir unter „schräg“? Ein Blick auf die Herkunft des Wortes bzw. auf die indogermanische Wurzel verrät, dass etwas verdreht, gekrümmt oder gebogen ist. Oder anders ausgedrückt: Etwas ist nicht geradlinig. Sowohl im direkten Sinne – von einer senkrechten oder waagerechten Linie abweichend als auch im davon übertragenen Sinne – als Abweichung von der Norm, vom Üblichen oder Erwarteten. Inwiefern dürfen nun aber die Werke von Winni Schaak unter die Überschrift „schräg“ gestellt werden? Das Offensichtlichste zuerst: Abgeschrägte, diagonale, abschüssige oder gekippte Linien findet der Rezipient zuhauf bei den Skulpturen von Winni Schaak. Ein Blick auf das Kunstwerk „3fach gefenstert“ oder „Versatz I“ oder auch „Perspektiv II“ verdeutlichen dies eindrucksvoll. Die meisten Formen werden in ihrem Ganzen als geneigte Flächen wahrgenommen. Wenngleich eine Horizontale und/oder eine Vertikale vorhanden sind, dominieren die schiefen Elemente den Gesamteindruck. Und nun zu der zweiten Bedeutungsebene: Schräge Häuser sind keine neue Erfindung; ein Blick ins Umland bietet genug Beispiele – James Rizzis Happy RIZZI House in Braunschweig oder das phæno in Wolfsburg von Zaha Hadid. Ein weiteres Beispiel wäre die im Rahmen des Kunstprojekts BUSSTOPS in Hannover entstandene Haltestelle am Braunschweiger Platz des Architekten Frank O. Gehry. Wenngleich oben genannte Werke unsere Wahrnehmung für schräge Linien im Bauwesen und im Stadtraum prägen, stellen senkrechte und waagerechte Linien normative Erwartungen dar, die mit Gebäuden verbunden werden. Auch Kinderzeichnung von Häusern zeugen eben davon. Bei Betrachtung von Schaaks Skulptur „Schmalhaus“ werden ebendiese Gewohnheiten auf die Probe gestellt. Seltsam, skurril, eigenartig, befremdlich, absonderlich, bizarr, ungewöhnlich, merkwürdig, schrill, sonderbar, unpassend, grotesk – die Skulpturen bewegen sich im Bereich des Grotesken. Primär entstammt der Begriff „grotesk“ der ornamentalen Malerei. Die auf diesen Ornamenten dargestellten Motive gehen auf antike Modelle zurück und verweisen durch ihre Bezeichnung auf den Fundort in Italien (von italienisch grotta „Grotte“) im Zeitalter der Renaissance. Sie sind z. B. durch die Verwebung menschlicher, pflanzlicher und tierischer Elemente charakterisiert. Folglich beschreibt das Groteske Erscheinungen, Situationen und Körper, welche aus heterogenen Bestandteilen zusammengesetzt sind und den zugrundeliegenden Grenzen, Maßstäben und Normen des Gewohnten und Natürlichen (der empirischen Welt) widersprechen und sie damit aufheben. Die Vermischung dieser heterogenen Elemente, welche sich wiederum aus der Wirklichkeit speisen, führt zu irrealen, neuen, eigenen Formen. Dabei sind die neu entstandenen Formen entweder aufgrund der unglaubwürdigen Wirklichkeitsüberschreitung irreal oder eben aufgrund einer übersteigerten Wirklichkeitsdarstellung. Bei Winni Schaak trifft der Rezipient keine Chimäre, aber die Vermischung, welche das Chimäre hervorbringt, ist indes lediglich eine Spielart des Grotesken neben der Verkehrung und der Verzerrung. Die Verzerrung kann durch einen Vergleich greifbar gemacht werden: Sie kann mit einem Zerrspiegel umschrieben werden. Dieser vergrößert oder verkleinert (beides Formen des Monströsen), verändert die Proportionen oder entstellt manchmal regelrecht. Das Objekt wird zerlegt und durch die Strukturmanipulation wieder neu zusammengelegt. Dem Proportionsideal der heimischen Kulturformation, also den gewohnten Normen, wird das groteske Ideal der entfremdeten Welt entgegengesetzt, so dass mit den Konventionen gebrochen wird. Seit der Romantik wird unter dem Grotesken sekundär eine ästhetische Kategorie verstanden, welche sowohl über die Grenzen des italienischen Raums, als auch über die Grenzen der einzelnen Kunstformen hinausgeht. Durch die semantische Entgrenzung erweitert sich der Begriff und bietet weitere, abstraktere Darstellungsmöglichkeiten. Diese haben neben der objektiv erkennbaren heterogenen Form in Abhängigkeit von der Schaffenshaltung Einfluss auf die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung sowie auf die davon abhängige Wirkung. Das Groteske operiert somit auf drei Ebenen. Die Wirkung des Grotesken bewegt sich zwischen dem Dualismus der Angezogenheit und der Abstoßung, dem Lachen und dem Grauen, wobei die Rezeption des Grotesken immer im Kontext (der Zeit) zu lesen ist. Auch bei den Kunstwerken von Winni Schaak ist dies der Fall. Einerseits herrscht eine Abstoßung durch die schiefen und dadurch bedrohlichen Elemente. Beinahe wie in einem alten Schwarz-Weiß-Animationsfilm, in welchem etwas starkem Wind zum Opfer fällt und in Schieflage gerät. Ein „gekippter Dom“ als Ausdruck des Grauen eines jeden Bauleiters. Zugleich aber amüsieren die schrägen Gestalten. Verstärkt wird dies noch durch die Titel wie bspw. „Irri Tatta“, und das Gefühl der Angezogenheit kommt zusätzlich auf. Wie ein Pingpong-Spiel bewegt sich die Reaktion auf das Kunstwerk zwischen den zwei Polen. Voller Spannung hin und her, hin und her – ziemlich schräg! Vera Schauf, Master Ed, Kunstvermittlerin |
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