Muss man Fernando Pessoa lesen, um Lissabon zu malen? Wozu sollten die Texte des vor 125 Jahren geborenen portugiesischen Schriftstellers, die er neben seiner Arbeit als Handelskorrespondent unter verschiedenen Heteronymen geschrieben, aber zu Lebzeiten nicht veröffentlich hat, heute noch taugen? „Ich lese Pessoas „Buch der Unruhe“, aber glaub' nicht, dass ich Pessoa illustrieren werde“, sagte Hans-Georg Hofmann vor seiner Abreise auf meinen Zweifel hin. „Ich lese seine Texte, bis ich an einer Stelle hängen bleibe und ich über Bilder nachdenke.“

 

Bilder, die aus Pessoa-Texten entstehen? Wo könnte man da hängen bleiben? Im berühmten „Buch der Unruhe“ zum Beispiel da: „Als mir der große Platz am Flußufer, der Terreiro do Paço, entgegenleuchtet, erblicke ich deutlich die Sonnenlosigkeit des Himmels ... Kühl verteilt in der abstrakten Herbstluft liegt ein tiefer Friede, den ich selber nicht spüre.“ Wie kann man erblicken, was nicht ist? Was ist das: ein Platz, der entgegenleuchtet? Ein tiefer Friede, der nicht spürbar ist? Das alles ist nichts Sichtbares. Aber es sind Bilder und die sind spürbar. Und mit der Idee von solchen Bildern kam Hans-Georg Hofmann nach Lissabon, an die Ufer des Tejo, einige Kilometer vor dem Atlantik.

 

Da hatte er schon gut 25 Jahre lang das Meer gemalt. Den Atlantik an der Küste der portugiesischen Insel Madeira zum Beispiel. Das Meer als Landschaft, seine „See-Stücke“. Meer und immer wieder Meer und doch immer wieder neu. Mal expressiv, mal fotografisch genau, manchmal abstrakt. „Als ich die See-Landschaften gemalt habe“, sagt Hans-Georg Hofmann, „dann ging das sehr ins Detail, und manche habe ich durchkomponiert“. Bis zum letzten, bis zur Abstraktion. Es gibt von ihm das Bild türkisfarbenen Wassers, das regelrecht entdinglicht ist, weil es offen lässt, ob wir über Wasser oder unter Wasser schauen. Es ist nicht mehr das Bild, sondern die Stimmung von Wasser. Dann daneben in selber Größe montiert: monochromes Blau. Das ist die Ahnung, es gibt irgendwo noch etwas, was immer es sein könnte.

 

Wie hätte das Pessoa beschrieben, wenn der sich mit Wasser beschäftigt hätte? Er hätte dieses „noch was“, dieses  „mehr“ beschrieben, Sätze gefunden, die  über die sichtbaren Bilder hinausgewiesen hätten. „Bei Pessoa gibt es immer ein „jenseits“, einen Bruch, schrieb ein Pessoa-Kenner. Und bei Hans-Georg Hofmann? Bei ihm ist es auch so, in Lissabon.

 

Einerseits sieht er die Stadt, als sei es noch immer die Stadt Pessoas. Aus der Zeit gefallen. Wie in den Bildern „A Brasileira“, einem der Stamm-Cafés Pessoas, „Tejo“, „Am Rossio“, „Die Farben von Lissabon“. Aber Hans-Georg Hofmann arbeitet nicht mehr am Einzelbild und seiner Vervollkommnung, wie in seinem „Madeira-Projekt“. Das Einzelbild genügt ihm nicht mehr. Das fängt damit an, dass in der Ausstellung „Fragmente der Unruhe“ diese Stadtbilder zusammen mit den „Seestücken“ hängen. Der Effekt ist umwerfend. Wir assoziieren etwas Größeres: die Stadt am Atlantik, der Atlantik an der Stadt. Da entsteht eine Stimmung über das einzelne Bild hinaus. Und es kommt noch besser. Mit seinen Mehrteilern bringt Hans-Georg Hofmann kleine Filme mit aus Lissabon, wie die Motivgruppen „Hellgrüner Horizont“ und „Symbole?“. Mit einem Textteil, mit einem monochromen Teil, denn der Film soll weiter gehen. In unseren Köpfen. In seinem.

 

Der Pinselstrich ist in Lissabon kräftig geworden. Vieles ist angedeutet und undeutlich, wie die nächtliche Hausfassade in „Stunden, die vergehen“, anderes ist aufgelöst, wie die Stadt- und Himmelsansichten in „Mond-Szene/All die Landschaft ist nirgends“. Bilder, wie durch flackernde Augenlider hindurch gesehen. Angenehm aufgeregt oder wissend schläfrig. Bilder einer angenehmen Unruhe. Pessoa nicht unähnlich.

 

Denn Pessoa ließ seinen Protagonisten (manche sagen auch: alter ego) Bernardo Soares im „Buch der Unruhe“ bekennen, dass „ich niemals wach bin. Ich weiß nicht, ob ich nicht träume, wenn ich lebe, ob ich nicht lebe, wenn ich träume, oder ob Traum und Leben bei mir nicht vermischte Dinge sind“. Das klingt auch durch die Bilder des „Lissabon/Pessoa“-Zyklus. Insofern hat Hans-Georg Hofmann seinen Pessoa nicht nur empfunden, sondern  tatsächlich gefunden.    

Thomas Tennler, Stuttgart