Selbstbildnis

Als Schlüsselbild in Simona Deflorins Werk fungiert ein Selbstbildnis, das 1992 entstand. Nach einer längeren Schaffenspause, bedingt durch den Tod des Vaters und eine persönliche Krise, beginnt Simona Deflorin als körperliche Reaktion, reflexartig wieder zu malen. Die Künstlerin lässt ihr Innerstes aufreißen und die inneren Bilder aus sich heraussprudeln anstatt sich zu verschließen. Sie malt gegen den Stillstand.

Das Bild zeigt sie mit leicht zur Seite gedrehtem Kopf, beide Augen den Betrachter fixierend und doch entrückt. In gedeckten Farben ist es gehalten, die keine Ablenkung vom Blick der jungen Frau zulassen. Einerseits ernst, entschlossen, andererseits traurig und verletzt, schaut sie ihr Gegenüber aus großen schwarzen Augen an. Auf ihrer Stirn prangt ein satter roter Farbklecks, der sich in ungleichmäßigen Ausläufern vom Oberkopf über das Gesicht verbreitet. Es scheint, als hätte sie eine Verletzung, sie ist gezeichnet. Ob es Blut ist, das von ihrer Stirn über die Wangen herunter läuft, ist nicht gewiss. Der Farbklecks stellt auch ein Aufbrechen dar, ein Austreten oder Heraussprudeln, wie bei einem Vulkanausbruch. Doch wird durch die Farbe noch etwas anderes, ganz Entscheidendes sichtbar: ihre Zerrissenheit. Entsprechend ist auch der Hintergrund geteilt, die eine Hälfte rot, die andere dunkelgrün. Das komplementäre Verhältnis der Farben wird durch das Gesicht geeint. Das Selbstporträt als Spiegel der Persönlichkeit wird zerteilt und damit wiederum gedoppelt; die Frau auf der einen Seite entschlossen und stark, die Frau auf der anderen Seite trauernd und verunsichert, beide sind jedoch vereint in einem Gesicht. Schmerz und Stärke sprechen aus diesem Bildnis, das deutlich eine Umbruchphase bezeugt. Die darauf folgenden Zeichnungen mit Fettkreide und Bleistift sind als ein zusammenhängendes Werk, ein Tagebuch zu verstehen, das eine bestimmte Zeit und ihre Prozesse bezeugt. Sie thematisieren oftmals das Verhältnis der Figuren im Bild, die meist als abstrahierte Formen gleichsam den Raum um sie herum als Form gestalten. Diese Zeichnungen konnten nur zu dieser Zeit, aus einem ganz bestimmten Gefühl heraus, entstehen. Sie stehen ganz und gar in ihrer Unverformtheit und wurden von der Künstlerin unfiltriert, ohne Überlegungen zu Komposition oder Farbe geschaffen. Das zeigt an, dass die Arbeiten in Simona Deflorins Werk einen eigenen Rhythmus haben, den die Bilder quasi seismografisch wiedergeben.

Die von Simona Deflorin behandelten Thematiken überschneiden und vermischen sich. Abgrenzungen fallen ebenso schwer wie eine Zuordnung im richtigen Leben nach Themen. Es gibt nur einen großen Themenzyklus von Leben und Tod.

 

Jedes Bild eine Häutung

Schon während des Studiums in der Malklasse standen meist Menschen und Menschliches, vor allem Köpfe und Gesichter, im Zentrum ihrer Bilder.

Das Selbstbildnis ist Ausgangspunkt für verschiedene Absplitterungen des Themas, wie etwa Kinderbilder, Erinnerungen oder Vorahnungen.

Ähnlich wie die Dadaisten und Surrealisten mit der Technik der „Écriture automatique“ versuchten, das Unbewusste aus sich hervorzuholen, lässt sich die Künstlerin in die Malerei hineinfallen, lässt ihr Innerstes hinausströmen, um ganz in dem Moment aufzugehen. Sie vergleicht diesen Zustand mit dem eines Bogenschützen, der, kurz bevor er den Pfeil loslässt, in höchster Konzentration und tiefster Entspannung zugleich ist. Malen als „totale Freiheit“, alles haben und doch nichts festhalten müssen.

ANOMIS ist das Ananym ihres Namens und weist auf einen Prozess hin, der ihr nicht weniger abverlangt, als immer wieder ein Stück von sich preiszugeben und so zu dem zurückzufinden, was sie schon immer war. Dieser „Ur-Simona“ Gestalt zu geben, zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Schaffen, welches sich deswegen jedoch keinesfalls nur auf sie und ihre eigene Gestalt, ihr eigenes Bildnis beschränkt. Jedes Bild sei wie eine Häutung, sagt die Künstlerin. Das bedeutet auch, jedes Bild gibt eine andere Schicht, eine andere Facette von ihr frei. Was ein Bild auslöst und wie es während der Entstehung transformiert wird, ist sehr unterschiedlich. Aus dem persönlichen Erlebenskosmos dringt immer etwas anderes an die Oberfläche, rückt ins Bewusstsein und verbindet sich mit äußeren Einflüssen. Augenscheinlich Banales wie Gesprächsfetzen, ein Traum oder ein seltsam geformter Schatten können ganze Bilderfluten auslösen. Ein Garten mit Zwergen darin kann in diesem Moment zur Zwergengruft werden. Schließlich spielt auch das Material eine entscheidende Rolle. Gefundene Bilder, Fotografien, Gegenstände können zu Narrationsmitteln werden, sind manchmal auch Auslöser für ein Bild. Innerliche Prozesse werden in den Bildern zum Abschluss gebracht und schließlich vor die Frage gestellt: Wie stark ist das Bild in sich? Jedes Bild besitzt eine eigene Schwingung, sucht sich einen anderen Weg ins Innere des Betrachters. Diese Dynamik macht eben die Vielgestaltigkeit von Simona Deflorins Arbeiten aus.

Stets sind die Bilder jedoch Zeugnisse ihres Selbst, ihres Sich-selbst-in-die-Welt-Bringens. Insofern sind sie alle auf eine Art Selbstbildnisse, jedoch nicht im traditionellen Sinne, sondern vielmehr als Porträts bestimmter innerer Zustände, die sich jedes Mal durch andere (auch wiederkehrende) Motive und Verschlüsselungen zeigen.

Im Zuge dieses Prozesses entsteht eine eigene Ikonografie, die für den Betrachter nicht immer einfach nachzuvollziehen ist.

Es bilden sich bestimmte Bild- und Denkfiguren heraus, die immer wieder aufgegriffen werden. Der Kopf, bzw. das Gesicht als häufiges Motiv, trifft auf Schnitte, Abbrüche, Hüllen und Mumien. Ein Leitmotiv ist der Fisch, der zum Symbol für die Rückkehr zum Ursprung wird. Er muss in sein Element zurückkehren, um zu überleben.

Neben einzelnen Motiven gibt es ganze Themen, die sich durch das Werk ziehen und die in immer wieder anderer Form an verschiedenen Stellen auftauchen.

Oft haftet den Motiven etwas Geheimnisvolles an, eine Faszination für das Unheimliche wird spürbar, etwa für Mumien, Knochen, versehrte oder schlicht aus der Norm fallende Körper. Viele Bilder setzen sich in komplexer Weise mit Körperlichkeit, Sterblichkeit und elementaren menschlichen Bedürfnissen auseinander – Schutz, Liebe, Sehnsucht.

 

Schutz und Verkleidung

Die Gladiatorin steht stolz und aufrecht vor dem Betrachter. Sie hält dem Blick stand. Die Augen wirken seltsam vertraut. Ist es nicht der gleiche Blick wie auch im Selbstbildnis?

Kopf und Oberkörper sind sorgfältig bandagiert, nur das Gesicht bleibt unbedeckt. An dieser kämpferischen Gestalt wirkt der Verband wie eine Rüstung. Sie schützt und richtet auf – doch sie engt auch ein wie ein Korsett.

Ein besonders ausgeprägtes Thema in Simona Deflorins Arbeiten ist das von Schutz und Verkleidung. Beides tritt in unterschiedlichen Formen auf und bedingt sich gegenseitig. Die Verkleidung, auch wörtlich zu nehmen als Kleidung, äußere Schicht und als Maskierung, kann im weitesten Sinne auch als Bandagierung bezeichnet werden, als welche sie auch manchmal in den Bildern auftritt.

Auf eine Weise schützt Simona Deflorin ihre Figuren, indem sie sie in Tücher oder Gewänder einhüllt, sie durch einen Sarg, Mauern, Gitter oder ähnliches einrahmt, ihnen die Augen verbindet oder sie in einen schützenden Uterus legt.

Das Kind in Die Haube bekommt durch eben jene Schutz. Es zählt, wie die Bilder der Serie Les enfants phénomène auch, zu den Versehrten, den Missgebildeten oder Entstellten, denen die Künstlerin zurückzugeben versucht, was ihnen wohl niemals zuteil wurde: Respekt, Anerkennung und Schönheit.

Schutz wird in diesem Sinne etwas zutiefst Persönliches. Der Haut als äußerste Grenze zwischen dem Ich und der Umwelt trägt Simona Deflorin eine weitere Schicht, wie ein Panzer, auf. Durch das Einwickeln und Verhüllen werden sowohl die Verletzung als auch die Verletzlichkeit der Figur hervorgehoben. Und nicht nur die Gladiatorin, auch andere bandagierte, maskierte oder anderweitig geschützte Figuren scheinen erst durch ihren Schutz wahrhaft nackt, unverstellt und ursprünglich zu sein.

 

Mumien

Das vermeintlich friedlich schlafende Mädchen in la rosa hat eine der berühmtesten, gar als schönste geltende Mumie der Welt zum Vorbild. Die 1920 verstorbene Rosalia Lombardo wurde auf Wunsch ihres Vaters so konserviert, dass sie selbst heute noch aussieht, als schlafe sie tief und fest. Lange Zeit war ihr Leichnam, der im Gruftgewölbe des Kapuzinerordens in Palermo beigesetzt wurde, ein wissenschaftliches Rätsel. Das Geheimnis ihrer chemischen Mumifizierung wurde schließlich gelüftet, doch ihrem Mythos tut das keinen Abbruch. Diesen zutiefst liebevollen Akt, sein Kind über den Tod hinaus zu erhalten, sein Andenken zu wahren und ihm einen besonderen Platz unter den Lebenden einzuräumen, hat Simona Deflorin in ihrem Porträt des Mädchens festgehalten. Der nach unten gesackte Kopf, die geschlossenen Augenlider, die zarte Schleife im Haar, das alles zeugt von einer letzten liebenden Umarmung und von tiefer Trauer, die sich im Gesicht des Kindes zu spiegeln scheint. Ihr Leiden hat sich durch die lasierenden Farbschichten in ihr Gesicht eingeschrieben und erzeugt eine tiefe Ergriffenheit. Hier gehen Schmerz und Trauer Hand in Hand mit Frieden und Befreiung.

Gleichzeitig erkennen wir in der oberen linken Ecke angedeutet, den Sarg, der die Figur umschließt. So aufgebahrt können Besucher die kleine Rosalia durch einen Glasdeckel noch heute ansehen.

Sie bleibt, wie ein kostbarer Schatz, unangetastet und sicher. Die elterliche Fürsorge geht über den Tod hinaus.

Die heilige Cecilia liegt im gleichnamigen Bild in gekrümmter Haltung vor uns. Der Kopf liegt wie sorgsam umschlungen, in einem Tuch verborgen, dem Betrachter abgewandt. So werden ihre Wunden sichtbar, die Schwerthiebe im Nacken, die sie wie Stigmata trägt.

In Anlehnung an eine Skulptur, die den Körper der Märtyrerin im Augenblick ihres Todes zeigt, arbeitet sich die Künstlerin auch in diesem Bild Schicht um Schicht durch die eigentümliche Mystik dieser Figur, erzählt uns von der Stärke dieser Frau, ihrem Leiden, ihrem grenzenlosen Glauben, der ihr der Legende nach die Kraft gab, ganze drei Tage um ihr Leben zu kämpfen, nachdem alle Hinrichtungsversuche fehlgeschlagen waren, um während dieser Zeit Gutes zu tun, Bürger zu bekehren und ihre Besitztümer unter den Armen zu verteilen.

Das ungewöhnliche Format der Leinwand umschließt ihren Körper wie ein Sarg, sie füllt die gesamte Fläche aus, so dass der Eindruck entsteht, sie liege vielleicht wirklich unter der Erde und wir blickten wie in einem Querschnitt in ihre Ruhestätte.

Angeblich ist ihr Leichnam über Jahrhunderte hinweg nicht verwest, der Augenblick ihres Todes auf mysteriöse Weise konserviert. So soll auch besagte Skulptur eine genaue Abbildung ihres Körpers sein, wie man ihn bei der Graböffnung fand.

Einbalsamiert durch ihren Glauben wird Cecilia ebenfalls zu einer Mumie.

Das Thema der Mumie geht unmittelbar zurück auf ein menschliches Bedürfnis, das – kulturhistorisch betrachtet – seit jeher anzutreffen ist; den Tod zu überwinden, den Toten zu gedenken und zu ehren und nicht zuletzt eine Brücke zu schaffen zwischen dem Dies- und dem Jenseits. Dieser merkwürdige Zwischenzustand, zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten, wird in den Bildern auch ohne entsprechende Kenntnisse über deren Hintergründe deutlich. Es schwingt eine Art Traurigkeit in ihnen, ein dumpfer Hauch von Ewigkeit, der diese Figuren umgibt.


Versehrte Körper

Den Kinderdarstellungen der Serie Les enfants phénomène kann man ihren originären Kontext leicht ansehen. Zwei der Vorlagen fand Simona Deflorin in einem Lehrbuch für Krankenschwestern, in dem verschiedene Missbildungen und Geburtsfehler fotografisch dokumentiert waren.

Wir schrecken vielleicht im ersten Moment vor diesen Ölbildern zurück, weil uns der ungewöhnliche Anblick der missgebildeten Hände oder des großflächigen Feuermals auf der einen Körperhälfte des kleinen Mädchens erschüttert. Gleichzeitig ertappen wir uns doch – wie häufig bei erschütternden oder schockierenden Bildern – beim Hinsehen.

Tatsächlich spielt auch die Fotografie als neues Medium des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle für unsere Wahrnehmung dieser Bilder. Als Instrument der Dokumentation wird es zum wissenschaftlichen Instrument, dem die Funktion zukommt, die Wirklichkeit abzubilden und zu reproduzieren. Gerade die Medizin dokumentiert mit Hilfe der Fotografie besonders extreme und kuriose Fälle und bedient damit (intendiert oder nicht) auch die offene Schaulust der Betrachter. Doch wie schnell die vermeintlich neutrale Aufnahme zum Objekt diffamierender Zurschaustellung wird, machte der Nationalsozialismus schließlich deutlich. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf wird das nur natürliche voyeuristische Moment für einen Moment unterbrochen, es schaltet sich eine moralische Zensur ein, die uns zuerst das offene Schauen verbieten will.

Die Kinder sind jeweils so abgebildet, dass wir ihre Behinderungen gut sehen können. Der Junge mit dem aufgetriebenen Bauch schaut uns direkt in die Augen. Wir sehen ihm seine Erniedrigung an, seine Scham, sich nackt vor die Kamera stellen zu müssen, um offen angestarrt zu werden. Keine Frage, die Vorlage für dieses Ölbild wurde für einen bestimmten Zweck erstellt, nämlich, die Krankheit des Kindes zu veranschaulichen. Der Junge war im Moment nur Objekt einer sterilen Untersuchung.

Im Fall des Mädchens mit den verwachsenen Händen diente die Vorlage sogar ganz offen dazu, die Neugier und Schaulust durch die Präsentation einer Kuriosität zu befriedigen. Das Foto ist ein Postkartenmotiv, das vermutlich um die Wende zum 20.Jahrhundert im Umlauf war, zu einer Zeit, in der Menschen mit derartigen Behinderungen Aussätzige der Gesellschaft waren, die auf Jahrmärkten zur Unterhaltung vorgeführt wurden.

Nun sind die Bilder jedoch von ihrer Vorlage gelöst und entwickeln eine eigenständige Wirkung. Sie zeigen uns die eigene Schönheit der Kinder.

Les enfants erhalten ihre Würde zurück, werden nicht auf pathologische oder gar erniedrigende Weise gezeigt, sondern als besondere Wesen. Ihre Besonderheit entstellt sie nicht. Das Mädchen in ihrem prachtvollen schwarzen Kleid hält ihre Hände wie eine Zauberin um eine unsichtbare Kugel gelegt, sie strahlt etwas Machtvolles und Weises aus.

Sicherlich gehen die Bilder von versehrten und kranken Körpern unter die Haut. Sie zeigen schonungslos eine verdrängte Seite unserer Existenz. Dass eben nicht alles perfekt ist, vergessen wir allzu leicht in einer Welt, in der körperlichen Abweichungen von der Norm mit allen Mitteln vorgebeugt wird und ästhetische Korrekturen bei den geringsten Anzeichen eines Makels an der Tagesordnung sind. Längst hat sich in den Industrieländern die Aufgabe der Medizin verschoben. Statt Heilung und Prävention steht die Optimierung im Vordergrund, „Self-enhancement“ findet auf allen Ebenen statt. Dabei zeigt ein Blick in unsere Geschichte, wie beliebig unser Schönheitsideal und wie wandelbar auch unser Verhältnis zu Krankheit und Tod ist.

Das Antlitz der Versehrten, der gesellschaftlich Verstoßenen und perfiderweise aus unserem Bewusstsein beinahe Verdrängten zeigt Simona Deflorin offen, manchmal in bedrückender Nähe, doch stets auf menschlicher Ebene. So führt sie uns unsere längst überwunden geglaubte Verletzlichkeit vor Augen.

 

Stärke und Schmerz

Dass der Mensch durch seine Verletzlichkeit auch wachsen kann, beweisen eindrucksvoll die Fadistas. Die Frauenporträts tragen ganz gegensätzliche Gefühle in sich. In ihren Augen liegen Trauer, Schmerz, Wut und Angst, und doch wirken sie stark und entschlossen. Die Leinwände sind vernarbt. Sie bestehen aus unterschiedlich großen Stücken, die zusammengenäht wurden. Diese Narben zerteilen die Leinwand wie Schnitte, sie verlaufen als sichtbare Wülste über die Gesichter. Die Narben der Leinwand werden zu seelischen Narben, zu Zeugnissen von Verletzungen, die der Mensch erfahren hat. Doch es sind diese Narben, die sie zu dem machen, was sie sind, und ihre Zurschaustellung macht sie letztlich zu Königinnen, die uns wie aus einem zerbrochenen Spiegel erhaben anblicken. Die Zerbrochenen hat die Künstlerin wieder zusammengesetzt. Durch das Trauma ist jede einzelne auf ihre Weise über sich hinausgewachsen, ist zu wahrer Größe gelangt.

Unwillkürlich führen uns diese Frauengesichter zurück zu uns selbst und zu unseren Narben, zu allem, was unsere Gesichter gezeichnet hat.

Ein weiteres Moment der vernarbten Leinwand ist das der Transformation.

Es ist der Moment, in dem sich etwas grundlegend im Wesen eines Menschen verändert, ab dem etwas nicht mehr so sein wird wie zuvor.

Das Bild des kleinen Jungen, dessen stahlblaue Augen einen aus seinem rot verschmierten Gesicht anfunkeln, hält meines Erachtens so einen Moment fest. Die Schnitte der Leinwand verlaufen über seine Brust und wirken hier eher noch wie frische Einschnitte, noch nicht wie Narben. Es ist, wie bei den Fadistas auch, eine Verletzung auf mehreren Ebenen, ob rein metaphorisch oder physisch, die hier angesprochen wird.

 

Trauer, Wut und Enttäuschung, aber auch Angst und ein eindringliches Fragen schlagen dem Betrachter aus dem Gesicht des Jungen entgegen. Ich nehme eine unbewusste ethnografische Einordnung vor. Afrika ist meine Assoziation. In einer Hütte in Afrika – dort steht der Junge in meinen Gedanken vor mir. Die Farbigkeit seines Gesichts und des Oberkörpers erinnert an Blut, nur weiß ich nicht, ob seines oder das eines anderen, eines Tieres vielleicht? Was ist er? Opfer oder Täter? Wird er gar in diesem Moment vom Opfer zum Täter? Das kindlich unbefangene Spiel empfinden wir als unverstellt, triebhaft, animalisch. Diese Vorstellung bringt in mir eine unheimliche Idee zum Vorschein. Mir scheint es nach einiger Zeit so, als blickte mich ein Löwenbaby an, das gerade seine erste richtige Beute gemacht hat – unschuldig und roh.

Manchmal ist es die Angst vor unserer eigenen Phantasie, die uns den Atem stocken lässt.

Das Fenster und Vor Indien zeigen das gleiche Motiv, jeweils unterschiedlich umgesetzt. Das Porträt einer Frau, deren Augen verbunden sind, doch trotzdem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dahinter ein geheimnisvolles Augenpaar liegt, das anzusehen uns vielleicht zu stark berühren würde. Um ihren Mund liegt ein entschlossener Zug. Die Augenbinde verbirgt ihre Augen wie eine dunkle Brille mit verlängerten Bügeln. Die Figur wirkt statisch, fast monumental durch den büstenhaft abgeschnittenen Oberkörper und die ausladende Haarpracht, die am Hinterkopf hochgesteckt ist. Es scheint hier der Moment der Transformation im Stillstand begriffen. Etwas nicht sehen können oder etwas nicht sehen wollen, was ist hier ins Bild gesetzt? Wieder fungiert eine Verhüllung bzw. Bandagierung als Schutz (auch Selbstschutz) und als Einengung oder Behinderung zugleich. Wer wird hier eigentlich geschützt? Ist es nicht auch der Betrachter, sind es nicht wir, die vor dem Leid oder dem Wahnsinn der Figur abgeschirmt werden? Durchaus kein Widerspruch. Gerade in traumatischen Situationen vergessen wir, verdrängen ein Ereignis und bewahren uns selbst und andere vor einer Konfrontation.

Die beiden Bilder ergeben ein Paar, wie Positiv und Negativ. Manchmal sehen wir eben Dinge mit etwas Abstand in einem anderen Licht, oder hier, in anderen Farben. Je nachdem, wie sich bestimmte innerliche Prozesse entwickeln und was sich aktuell in ihrer Wahrnehmung befindet, legt die Künstlerin einen anderen Fokus, eine andere Perspektive in das Bild. Die Serialität der Arbeiten ist unmittelbares Ergebnis eines alle Sinne umfassenden Prozesses. Es ist ein Suchen, Nachspüren und Verarbeiten. Manches, so räumt sie ein, gibt erst später einen Sinn, ganz ähnlich einem Traum oder einer Vorahnung, die erst im Nachhinein bestätigt wird. Plötzlich wird dann vielleicht klar, was der Auslöser für ein Bild war oder warum sie es gerade so gemalt hat.

Vielleicht können Das Fenster und Vor Indien auch als Sinnbild für eine Vision verstanden werden, die in dieser Zweideutigkeit natürlich nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen oder einem besonderen Sinn (einer „Antenne“) empfangen wird. Vorahnung und Erinnerung (déjà-vu) liegen dabei eng zusammen, diese Erfahrung hat sicherlich jeder schon gemacht.

Wie?Wo?Was? und Endlos behandeln beide die Doppelfunktion der Bandagierung in Form einer Augenbinde. Die Figuren sind einerseits ausgeliefert und ihrer Sicht beraubt, andererseits vielleicht gerade dadurch geschützt vor dem Anblick, den sie sonst zu Gesicht bekämen. Die Situationen sind nicht eindeutig, sie sind sogar bewusst höchst zweideutig angelegt.

Wie?Wo?Was? sind auch die Fragen, die beim Betrachten dieses Bildes auftreten. Warum sind die Augen verbunden? Was wird gleich passieren? Es liegt eine Art Bedrohung in der Luft. Doch wieso, das können wir nicht sagen. Der schmale Grat zwischen Schmerz und Lust könnte ebenso angesprochen sein wie eine konkrete Tötungs- oder Folterszene, aber auch ein unschuldiges Spiel, wie „Blinde Kuh“.

Endlos, scheint wie eine Fortführung der Szene aus Wie?Wo?Was?. Innerhalb weniger Sekunden bemächtigt sich unsere Phantasie aller möglichen düsteren Vorstellungen. Danach fällt es schwer, beim Anblick des Gebildes über dem Kopf der frontal stehenden Figur nicht an einen Knoten zu denken, der die Schlinge um ihren Hals arretieren soll. Es ist, da scheint kein Zweifel, der Moment vor einer Erhängung zu sehen. Wieder sind die Augen verbunden, fallen Schutz und Verkleidung in eins. Das Opfer ist ausgeliefert und zugleich geschützt vor dem Anblick seines Henkers. Doch wird gleichzeitig auch der Mörder geschützt, der seine Tat vielleicht nicht vollziehen könnte, müsste er in die Augen des Opfers sehen. Opfer und Täter befinden sich in einer eigenartigen Nähe zueinander. Beinahe meint man, ein Raunen zu erahnen. Drohendes Zischen oder doch zärtliches Flüstern? Welch merkwürdiger Akt, jemandem, den man töten wird, die Augen zu verbinden, beinahe fürsorglich. Ist dem Opfer nicht schon jede Würde genommen? Wozu dieser Aufwand? Um sich selbst zu schützen? Vor der eigenen Gewalt?

Es ist vielleicht noch ein anderes, bizarres Szenario denkbar. Wenn wir die Augenbinde abnähmen, was würden wir dann in den Augen des vermeintlichen Opfers sehen? Angst? Verachtung? Oder vielleicht Begehren? Wer sagt, dass es sich bei diesem Bild nicht um ein Bondage-Ritual handelt? Dann wäre die Intimität zwischen den beiden Figuren keineswegs auf den bevorstehenden Tod begründet, sondern auf gegenseitiges Einverständnis. In beiden Fällen jedoch schrumpft die Distanz zwischen den beiden, denn es gibt wohl kaum intimere Momente als den Tod oder das lustvolle Erleben.

Gewalt in all ihren Spielarten begegnet uns nicht nur in diesen beiden Bildern. Vor allem seelische Gewalt, Verletztsein und Verletzen, Schmerz und Unterdrückung werden immer wieder in den Bildern Simona Deflorins aufgefächert.

 

Das Spiel mit den Blicken – ich sehe was, was du nicht siehst?

Zuweilen kommt auch eine träumerische Verspieltheit zum Vorschein, die uns subtil und ironisch auf merkwürdige Zusammenhänge hinweist. Die Serie kleinformatiger Papierarbeiten mit Pastellkreide und Graphit aus den Jahren 1997/1998 entfaltet einen Katalog organischer Formen, abstrakter Muster, die der Natur entlehnt scheinen. Einzeln betrachtet setzen diese Arbeiten eine erstaunliche Vielfalt an möglichen Motiven und Vorbildern frei. Sie wecken Assoziationen mit mikroskopischen Aufnahmen, archäologischen Fundstücken, primitiven Architekturen oder Pflanzenteilen. Die diversen kegel-, trichter- und kreisartigen Formen werden in der Zusammenschau zur Busenwand, einer augenzwinkernden Verschiebung der Lesart.

Die Brust, Ernährungsorgan und Liebesobjekt, das weibliche Ursymbol schlechthin, ist uns allen evolutionsbedingt und kulturhistorisch eingeprägt. Diese Form erkennen wir alle – und vor allem suchen wir danach. Hat sich die Busenwand erst einmal vor dem Betrachter formiert, scheint es unausweichlich, weitere Urformen zu erkennen, konsequenterweise phallische Formen und weiblich assoziierte Einbuchtungen. Gefäße, die sich durch das Changieren zwischen abstrakten und konkreten Formen wie aus einem Vexierbild abheben, definieren einander als das jeweils andere (Positiv- und Negativform) – und werden in unseren Augen zu einer Sammlung von Fruchtbarkeitssymbolen, einer absolut universellen Formensprache unserer Natur.

Es ist ein wunderbares Spiel mit den Bedeutungen, die so eine Zeichnung erhalten kann, in das uns die Künstlerin einbindet und zum Schauen verführt. So auch bei Mira. Frech blitzen uns aus dem Wasser drei entblößte Hinterteile entgegen, die Hosen offenbar gerade eben heruntergezogen. Den genauen Umstand dieser absurden Begegnung kennen wir nicht, ein genauer Hintergrund ist nicht erkennbar. Und auch die Gesichter und Geschichten der Unterkörper, die nur mit Badehosen bekleidet, aufgereiht wie in einem Regenwald stehen, bleiben verborgen.

Es wirkt wie ein Detail aus einer zufällig beobachteten Szene am Badesee.

Mira kommt auch eine sprachliche Doppeldeutigkeit zu. Im Italienischen oder Spanischen heißt es soviel wie „schau; sieh“, aber auch „Ziel“ oder „Absicht“. Es liegt also auch eine Aufforderung in diesem Titel. „Sieh’ her, schau es dir an!“ Wir nehmen die nackten Hintern geradezu ins Visier, fokussieren sie. Durch wessen Augen sehen wir dieses Bild? Die des Jägers, der sich an seine „Beute“ heranpirscht? Die eines Voyeurs? Ist diese Aussicht, die uns da beschert wird, gar ein unverblümtes Angebot? Die Fantasien, die angestoßen werden, sind – wie bei vielen anderen Bildern auch – durch den Titel nicht festgelegt, sondern werden durch ihn erst aufgefächert oder verrätselt.

 

Aquarelle – Schatten, Ahnungen von Menschen

In den neueren Arbeiten treffen wir auf eine Serie von Aquarellen, die allesamt wieder menschliche Gesichter oder Masken zeigen. Es sind Begegnungen mit Unbekannten, die wir doch irgendwie zu kennen glauben. Hier und da blitzt ein bekanntes Gesicht auf, das wir aus der Zeitung, dem Fernsehen oder von einem Plakat kennen. Die ungeheure Bilddichte von schönen Gesichtern ist ein Phänomen unserer Mediengesellschaft. Massenhaft treten die perfekt symmetrischen, ausgeleuchteten und retuschierten Antlitze auf, und sie verbreiten sich ebenso massenhaft durch ihre beständige Reproduktion in den Medien, die uns mit ihnen geradezu bombardieren. So brennt sich das Gesicht einer Kate Moss unter Umständen genauso stark in unser Bewusstsein wie das der Mona Lisa, wobei letzteres im Alltag vermutlich seltener betrachtet wird.

Simona Deflorin spielt mit den Konventionen und Zwängen unserer Gesellschaft. Das Ideal der Medien führt sie durch serielle Wiederholung und schrittweise Verfremdung, durch Überspitzung und Unschärfe auf ein begrenztes Repertoire von Typen, Gesten und Versprechen zurück. Beim Betrachten dieser Aquarelle durchsuchen wir unbewusst unseren Bildspeicher, suchen nach bekannten Zügen oder Ähnlichkeiten. Vor unseren Augen verschmelzen bekannte Gesichter mit flüchtigen Erinnerungen und Schatten, die wir unbewusst aus dem Augenwinkel gesehen haben.

Der laszive Blick, der zurückgeworfene Kopf, der Schmollmund, die wehenden Haare, die uns allen Schönheit, Erfolg und Liebe verheißen, werden hier auf unverstellte Weise gezeigt. So werden die Stereotypen zu Masken, manchmal gar Monstern, die sich von dem entfremden, was sie auf dem Werbeplakat, in der Zeitung oder im Fernsehen darstellen. Erst durch die Thematisierung der Oberfläche wird die Aufmerksamkeit auf das gelenkt, was dahinter liegt. Die Maskierung ist zugleich Enthüllung. Der sexy Augenaufschlag entleert sich in die Ferne, das Make-up zerläuft wortwörtlich durch die zarten Verläufe der Aquarellfarben, und die fesselartigen Träger und zum Teil aufgenähten Stoffteile wirken wie eine spielerische Analogie zu ästhetischer Chirurgie und der zwanghaften Suche nach immer neuen Methoden der körperlichen Verbesserung.

In die Bildoberfläche eingearbeitete BH-Träger oder Streifen von bunt gemusterten Kimono-Stoffen verlaufen wie Riemen über die Gesichter. Die Fesseln der modernen Frau? Die Domestizierung der modernen, attraktiven (Karriere-) Frau? Diese Träger namhafter Wäschemarken legen sich mal um den ganzen Kopf, mal schnüren sie nur einzelne Gesichtspartien ab. Der groteske Kopfschmuck mutet wie ein Maulkorb, ein Zaumzeug oder ein Fetischaccessoire an. Das Objekt der Begierde wird zum Modediktat – „Fashion victim“ könnte die ironische Bildunterschrift lauten.

„In den Produkten der Phantasie werden die ,Urbilder’ sichtbar, und hier findet der Begriff des Archetypus seine spezifische Anwendung.“ 1

Das, was hinter der typischen Geste des Supermodels oder der berühmten Schauspielerin steckt, wird sensibel herausgearbeitet und es ergibt sich ein anderes, ein emotionales Porträt. Im Laufe dieser Serie nimmt das Maskenhafte zu – und es beginnt eine weitere Verwandlung der Gesichter in teilweise geisterhafte Erscheinungen, die sich in ihrer Unschärfe loslösen von physiognomischen Mustern und stattdessen zu reinen Archetypen mutieren.

Aus den verlaufenen Farben und unscharfen Konturen bilden sich neue „Monster“ heraus.

 

Bilder, die wir alle in uns tragen

„Wir haben Ahnungen und Wahrnehmungen aus unbekannten Quellen. Ängste, Launen, Absichten, Hoffnungen befallen uns aus unersichtlicher Kausalität. Diese konkreten Erfahrungen bilden die Grundlage jenes Gefühls, daß man sich selber ungenügend bekannt sei, und der peinlichen Vermutung, daß man an sich selber Überraschungen erleben könnte.“ 2

 

So wie die Künstlerin während des Malens unterschiedliche Gefühle und Ereignisse, innere und äußere Bilder an die Oberfläche holt und, je nachdem wie sie sich ihr bieten, zu symbolhaften Bildnissen transformiert, sprechen uns auch immer andere Dinge in ihren Bildern an. Auch der Betrachter hat einen jeweils unterschiedlichen Fokus auf die Bilder, abhängig davon, was gerade seine Wahrnehmung durchkreuzt.

Simona Deflorins Werk zeigt nicht nur Facetten ihrer selbst, sondern spürt Bilder auf, die wir alle in uns tragen. Sie findet immer neue Bilder für Archetypen unseres Daseins. Damit sind erstmal reine Stimmungen gemeint, doch diese bedeuten uns in ihrer jeweiligen Form natürlich auch verschiedene Zusammenhänge. Nicht immer kann man begründen, warum ein Bild eine bestimmte Wirkung auf einen selbst hat. Doch möglicherweise gibt es so etwas wie Urbilder, die wir alle schon immer kannten. Sie drücken sicherlich auch Wünsche und Bedürfnisse aus.

In gefundenen Bildern findet Simona Deflorin manchmal etwas, das sie berührt, ansticht oder besticht, aus dem sie ein bestimmtes Gefühl extrahiert und durch ihre inneren Bilder zu einem neuen Ausdruck transformiert. Sie bereitet etwas auf, um das darin angelegte Urbild herauszulösen. Das ist ein poetischer Akt, insofern er etwas verdichtet, was schon da ist, allerdings auch etwas dazugibt, das sehr persönlich ist. Obwohl ihre Arbeiten größtenteils figürlich sind, sind sie trotzdem abstrakt, denn sie abstrahieren etwas und mehren dadurch eigenartigerweise dessen Bedeutung.

Den Titeln kommt dabei eine besondere Rolle zu. Sie schaffen Brücken, die so in den Bildern meist nicht angelegt sind. Sie haben meist einen Bezug zur Realität, der uns jedoch verborgen bleibt. Manchmal ist es eine Begebenheit während des Entstehungsprozesses, manchmal eine pure Assoziation. In jedem Fall bieten sie eine (weitere) Bedeutungsebene an.

 

Ein letzter Gruß stand auf der Rückseite des Fotos, das Simona Deflorin in ein Ölgemälde umgesetzt hat. Das Porträt einer Frau, die mit dieser Widmung vielleicht ihrer Nachwelt etwas hinterlassen wollte oder die von ihren Kindern nachträglich aufgeschrieben wurde? Den genauen Zusammenhang kennen wir nicht.

Ihre Affinität zu Fotos aus der Zeit um den Schritt in das 20. Jahrhundert hinein teilen sicherlich viele Betrachter. Sie besitzen einen eigenen Ausdruck, einen geheimnisvollen Charme, den wir durch die historische Romantisierung dieser Epoche geradezu suchen. Zu Beginn ihrer Verbreitung stellte sich die Fotografie zuallererst in die Tradition der Porträtmalerei und löste diese allmählich ab. Im Fokus der Kamera befand sich zuerst das menschliche Gesicht.

Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal. Das ist es, was deren schwermutvolle und mit nichts zu vergleichende Schönheit ausmacht. 3

Vielleicht ist es die von Walter Benjamin beschriebene Aura, die Simona Deflorin aus manchem alten Foto anblickt und in ihr Schaffen eindringt. Das Wesenhafte einer Person wiederzugeben, ein vergangenes Gefühl wiederzubeleben und ihre eigene Stimmung mit ihm zu verweben, ist ihre Kunst.

Ein letzter Gruß also auch der Aura, die zum letzten Mal winkt, sich in das gemalte Bild hinüberrettet und uns dort erwartet, bereit, uns eine Unbekannte nahe zu bringen. Etwas Schwermütiges, Melancholisches geht von dieser Unbekannten aus. Es ist nicht nur ihr letzter Gruß, es ist der letzte Gruß, das letzte Aufblitzen im Augenwinkel, bevor eine Person verschwindet.

ANOMIS, die Philosophie der Künstlerin, entspinnt eine Mythologie des Selbst, die sich uns in einer ganz eigenen Bildsprache offenbart.

Es ist die oben zitierte Überraschung, die wir selbst auch in der Begegnung mit den Bildern erfahren. Wir finden etwas von uns in ihnen, das wir vielleicht nicht vermutet oder verdrängt hatten. Diese Überraschung hält die Bilder für uns lebendig und öffnet uns den Raum hinter den Bildern. Einen geheimnisvollen, geborgenen Ort, an dem alles da ist, was wir zulassen.

 

Lê Duong-Thanh

 

 

Quellenangaben

1           Carl Gustav Jung: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. Gesammelte Werke, 4. Aufl., herausgegeben von Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf, Walter-Verlag, Zürich, 1980, S. 94.

            Mit freundlicher Genehmigung der Stiftung der Werke von C. G. Jung, Zürich

2           Ebd., S. 192

3           Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro­du­zier­barkeit (1936/1939), in: ders., Detlev Schöttker (Hg): Medienästhetische Schriften,  Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1601, 2006, Frankfurt am Main, S. 362.