Sie betrachten mich, die Bilder von Simona Deflorin. Auch wenn der Blick der dargestellten Gesichter abgewandt, die Augen geschlossen, verbunden oder tot sind: Sie schauen mich an wie lebende Wesen. Sie blicken aus einer Welt heraus, für die unsere Alltags-Augen blind sind. Diese Wesen, diese „Anomisen“, sind solche, die nicht angeschaut, nicht gehört werden. So sagt es ihr Name in frei-assoziativer Übersetzung des Ananyms von „Simona“, was auf Hebräisch „die Erhörte“ heißt. Ich erlaube mir, Anomis als „das/die Unerhörte“ zu übersetzen.

Die Unerhörten gucken aus ihrem Reich heraus und wispern mir Fragen zu. Sie wecken erschreckte Fragen in mir. Sie ziehen mich in einem Strudel aus Fragen, Gedanken, Empfindungen hinab in die Tiefe. Sie bannen und locken mich sirenenhaft in ein Reich, in dem mir Sprechen und Denken vergehen. Die gewohnten Kategorien des Verstandes greifen hier nicht. Die üblichen Markierungen des Lebens verschwimmen in einer schattenhaften Welt, in der sich Schemen und Konturen aus finsterer Strahlkraft formen.

Es ist ein Reich unterhalb der Oberfläche der Gesellschaft, hinter der Spiegelfläche des Menschlichen, eine Welt hinter der Welt: Im Reich der Anomisen verschmelzen Widersprüche zu einer hintergründigen Wahrheit. Die Synthese des Widersprüchlichen erschafft ein Kraftfeld, das mich bannt, mir – körperlich spürbar – durch Mark und Bein geht. Ich bin einem Magnetismus ausgesetzt, der mich abstößt und anzieht. Mit Haut und Haaren fühle ich mich einer Wirklichkeit ausgesetzt, die in der Mitte von Welt und Gesellschaft nicht zu Hause sein darf. Im Reich der Unerhörten ist das Leben zugleich schön und bizarr, zärtlich und mörderisch, stolz und verletzt, sinnlich und gewalttätig, attraktiv und ekelerregend.

Das unerhörte Reich der Anomisen ist ein mutiger Ort. Alles bekommt ein Zuhause, der Alptraum ebenso wie die Verheißung. Alles wird achtsam-zärtlich angeschaut. Und jedes Wesen dieses Reiches, das kleine, verwachsene, das mumifizierte, das sterbende, das trotzige, das fiese, schöne und das traurige: jedes ist transparent für etwas, das dahinter liegt, jedes transzendiert sich selbst und zwingt den Blick weiterzuschauen, durch Fläche und Schichten hindurch auf Hintergründiges, Unaussprechliches.

So sehr die anomisischen Wesen wohl individuell-biographischen Ursprungs sein mögen, so sehr führen sie ihre Betrachterin zugleich in eine Art seelisches Ursumpfgebiet, das Archetypen zu gebären und kollektive Themen zu beheimaten scheint. Ich begegne meinem eigenen Schmerz, meinen Wunden, meiner Schönheit, meiner Freiheit.

Dann steige ich allmählich wieder auf aus dem Reich der Tiefe und habe nichts verstanden. Aber ich habe Schmerz gesehen und Schönheit gespürt. Die Art von Schönheit, die sich zeigt, wenn die Spuren und Narben des Lebens liebevoll, aufmerksam und direkt, ohne Scheu, angeschaut werden und der Schmerz anwesend sein darf. Schmerz und Schönheit sind einander darin verwandt, dass sie beide einen Menschen vollkommen erfassen können. Die Anarchistin und Mystikerin Simone Weil schreibt: „Die Erfahrung überwältigender Schönheit erzeugt eine Art körperlichen Schmerz, das Gefühl, in seinem Innersten getroffen zu sein, in gewisser Weise entmächtigt zu werden. Dadurch wird sie zu einer Grenzerfahrung, die den Menschen aus der Verschlossenheit in sich befreit und über sich hinausführt.“ 4

Und ebendies bewirken Simona Deflorins Bilder. Sie sind wie ein Befreiungsschlag, seelisch und gesellschaftlich. Sie stellen eine befreiende Opposition, einen heilsamen Kontrapunkt gegenüber dem gesellschaftlichen Zwang zur Selbstperfektionierung dar. „Optimiere dich ständig! Denk positiv, sei effektiv und attraktiv! Mache dich selbst und verantworte dich in aller Totalität selbst“, lautet der Imperativ der Egooptimierung. Eine fatale Haltung, die sich ängstlich gegen alle Unberechenbarkeiten verschließt, die den Lebensplan durchkreuzen könnten. Sie verschließt sich gegen die Bewegungen des Lebens, kappt der seelischen Amplitude ihre Höhen und Tiefen, zwischen denen Halt, Sinn und Erfüllung wachsen. Es folgt ein inneres Erstarren, das verhindert, sich selbst und dem anderen achtsam und mitfühlend zu begegnen.

Der inneren Starre und Gleichförmigkeit entspricht das damit einhergehende Schönheitsideal, das harten Blicken standhalten muss, die Brüche und Knicke nicht dulden. Gesichter werden maskiert, Körper gestählt, es wird geglättet und eliminiert was das Zeug hält – der sichtbare Versuch, sich den Bewegtheiten des Lebens zu entziehen. Eine Perfektion, die es für falsch erachtet, sich dem vitalen Lebensstrom anzuvertrauen, der hässliche und schmerzhafte Spuren hinterlassen kann.

Die Welt der Anomisen dagegen ist prozesshaft, vernarbt und fragmenthaft. Manche Bilder erscheinen mir wie in unabgeschlossener Bewegtheit. Meine Augen und mein Geist finden keinen Ruhepunkt. Sie verirren sich in Gesichtern und Gesten. Ein Ankommen gibt es nicht, auch keine Antwort. Ich komme nicht zum Stillstand, werde durch keine abschließende Erkenntnis ruhiggestellt, bleibe suchend unterwegs.

Vom Fragmenthaften geht Bewegung und Unruhe aus. Fragmente weisen über sich hinaus. Sie lassen eine Ganzheit suchen, die sie selber nicht bieten. Der Theologe Henning Luther schreibt: „Wir sind … Fragmente zerbrochener Hoffnungen, verronnener Lebenswünsche, verworfener Möglichkeiten, vertaner und verspielter Chancen. Wir sind Ruinen aufgrund unseres Versagens und unserer Schuld ebenso wie aufgrund zugefügter Verletzungen und erlittener und widerfahrener Verluste und Niederlagen. Dies ist der Schmerz des Fragments.“5 Zugleich ist das Wesen des Fragments Sehnsucht. Es ist auf Zukunft aus. In ihm herrscht Mangel, das Fehlen der ihn vollendenden Gestaltung. Die Differenz, die das Fragment von seiner möglichen Vollendung trennt, wirkt nicht nur negativ, sondern verweist positiv nach vorn. Aus ihm geht eine Bewegung hervor, die den Zustand als Fragment zu überschreiten sucht. Lebensfragmente weisen über sich hinaus und erfüllen den Menschen mit der Sehnsucht nach dem Ganzen. Sie halten ihn in Bewegung. Identität ist für Luther daher immer nur fragmentarisch. Eine vollständige, abgeschlossene Ich-Identität hieße für ihn, das Vergangene zu verdrängen, nichts Neues mehr zu erwarten und sich vor Veränderungen in der Begegnung mit anderen zu verschließen. Das bedeutet Verzicht auf Trauer über Vergangenes, auf Hoffnung für Zukünftiges und auf Liebe zum anderen.6 

Die Bilder von Simona Deflorin: Sie revoltieren gegen das glatte Mittelmaß des Vordergründigen. Mit zärtlicher Wucht nehmen sie sich der unerhörten Lebewesen und Lebensthemen an. Sie blicken mich an, mit wütender Liebe:

„… jeden nackten leib, der nach einer umarmung strebt, werde ich segnen.

ich werde der schutzengel

der liebenden sein,

ohne rücksicht auf eure scheinheiligkeit,

denn ich bin gekommen,

um eine neue liebe zu verkünden

– hier auf erden.

mit hungernden und spatzen zusammen,

mit huren und gauklern,

mit bettlern und kranken

werde ich dann beten

für euch

und dafür, dass die neue welt

eure mittelmäßigkeit übersteht.“ 7

 

Annette Behnken, März 2011

 

 

 

 

Quellenangaben

 

4           zitiert in: Regine Kather, Geist und Leben 6, 209, 424.

5            Henning Luther: Identität und Fragment, in: ders.: Religion im Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, S. 160-182.

6            Ebd.,S.167-171

7           SAID, Das Niemandsland ist unseres. West-östliche Betrachtungen, München 2010, S. 61f.