… Der Definition nach ist das Porträt an eine konkrete, in der Regel benannte Person ge­bunden, die zweifelsfrei erkennbar sein sollte, ohne dass die Naturtreue eine entscheidende Rolle spielt. Dass Gert Fabritius dieses Merkmal bewusst unterläuft, führt zu Irri­ta­tionen: In der über- und untereinander ge­reihten Köpfe-Parade verliert sich das individuelle Einzelbild im Gesamtensemble, und zugleich ragt die Persönlichkeit – die Typik der Person – in dieser Reihung umso deutlicher hervor. Da die Köpfe keine Titel tragen, bleiben sie anonym, nur zwischendurch wird dem Betrachter das eine oder andere Gesicht vertraut vorkommen: Durch die mediale Präsenz animiert, kann man Christoph Schlingensief oder Herta Müller ausmachen, aus der Erinnerung heraus mag man das Konterfei aus dem Pop-Geschäft oder aus der Politik-Branche mutmaßen, ein Selbstporträt mischt sich „unter die Leute“, deren Gesichter Zufallserscheinungen bleiben, deren Erkennbarkeit einem privaten Bekanntenverhältnis entstammt. Neben den Personen „wie du und ich“ tauchen sogenannte V.I.P.s – und mit dieser Erkenntnis auch Zweifel – auf. Reduziert sich die Schar bekannter Größen auf den flüchtigen Déjà-vu-Gedanken „Der sieht aus wie…“? Mit diesem spielerischen und vielschichtigen Um­gang mit der Bildniskunst greift Gert Fabri­tius ein virulentes Thema in der Kunst auf, wie ein Seitenblick auf Arbeiten von Andreas Lau oder Marlene Dumas sowie auf aktuelle Ausstellungen zum Porträt zeigen würde.

Sieht man sich in der Kunstlandschaft um nach vergleichbaren Ansammlungen von Bildnissen, wird man seltener in der Malerei und Grafik fündig als in der Fotografie (Peter Granser, Marie-Jo Lafontaine, Tho­mas Ruff u. a. ). Dort geht es jedoch meistens um die Charakterisierung eines Gene­ra­tions­ty­pus bzw. einer sozialen Gruppe. Gert Fa­bri­tius bewegt sich bei seinen Pro­tagonisten zwar auch am mittleren und etwas höheren Alterssegment, was auf eine Generations­schau schließen lässt. Aber sie unterliegt dem Eindruck unvereinbarer kollektiv-individueller Physiognomien. Dem Künstler kommt es auf die Charakterzeichnung durch markante Gesichtszüge und den Augen-Blick an. Deshalb fehlen Kinder­dar­stel­lun­gen einerseits wie ablenkende Utensilien, etwa Brillen, andererseits (wobei sehr wohl Brillenträger unter den Vorbildern der Dargestellten sind). Zudem ist das weibliche Antlitz unterrepräsentiert, was nicht geringschätzig gemeint ist. Von Holzschnitten des Expressionismus, man denke an Porträts der Brücke, weiß man, dass die schroffe Technik den weicheren Gesichtszügen der Frau abträglich ist – und wie immer bestätigen auch hier die Ausnahmen die Regel.

…Wesentlich ist in diesem Ensemble verschiedenartiger Personen, dass ihre Porträts nichts hervorkehren. Sehen wir, wie angedeutet, in einem Gesicht den Regisseur und Künstler Schlingensief, in einem anderen die Literaturnobelpreisträgerin Müller, dann assoziieren wir mit ihnen auch das Leid eines vom Tod gezeichneten und eines von der Vergangenheit einer Diktatur verfolgten Lebens. Doch machen die vielen nur fallweise oder gar nicht zuzuordnenden Bild­nisse darauf aufmerksam, dass so mancher sein Päckchen zu tragen hat, von dem wir Betrachter kaum etwas ahnen. Mit­men­schen unseres Alltags, die vielleicht auch nur glücklich sind, oder die wiederum aus dem Mut der vom Schicksal Gezeichneten Hoffnung schöpfen. Wie in einem überdimensionalen Briefmarkenalbum sind diese Köpfe aneinandergereiht.

Dass sie im Holzschnitt gedruckt sind, gibt einem imaginären theologischen Programm Auftrieb: In einem Schaffensprozess wurden die Bildnisse aus dem rohen Druckstock geholt, an dem sie sich nun seitenverkehrt messen und spiegeln können. Der Schö­p­fungs­prozess in theologischem Sinn lässt – von höherer Warte aus – grüßen. So sind die Köpfe gewissermaßen Ebenbilder, aber auch eben „nur“ Bilder geworden. Gert Fabritius schafft repräsentative Physiognomien, ohne einem Proporzdenken zu folgen und ohne Vor-Bilder zu erzeugen. Wenn wir uns von der klassischen Porträtkonzeption lösen, die am Ähnlichkeitsprinzip festhält, kristallisiert sich ein kultisches Stell­ver­treter­klischee heraus, das in der prähistorischen Malerei bereits angedeutet, aber gerade auch in der christlichen Kunst (figurative Dar­stellungen an Schlusssteinen, am Chor­gestühl, auf Epitaphien, als Stifter­figuren usw.) fest verankert ist. …

 

Günter Baumann

(Ausschnitt aus einem Katalogtext zur Ausstellung Eben Bild in der Stuttgarter Leonhardskirche, 2009)