Gelegentlich ist es gut, einen Schritt zu­rück­zutreten und das Gesamtwerk eines Künst­lers noch einmal im Überblick zu betrachten – insbesondere, wenn man einen Künstler gut zu kennen glaubt, wenn schon alles gesagt ist, wenn er gerade selbst Rückschau hält oder zu neuen Ufern aufbricht. Bei Gert Fabritius ist dies alles gleichzeitig der Fall.

1997 haben wir anlässlich der Verleihung des Lovis-Corinth-Sonderpreises an Gert Fa­britius durch die Künstlergilde Esslingen im Museum Ostdeutsche Galerie in Regens­burg die bis dahin entstandenen Werk­grup­pen ausführlich gewürdigt und mit der zeitgenössischen Kunst konfrontiert.1 Fa­bri­tius war nach seinem Studium 1961-67 an der Kunstakademie in Klausenburg zunächst ein Jahrzehnt lang als Illustrator für die deutsch­sprachige Presse und für Buch­ver­lage in Bukarest tätig. Als die politische Situation in Rumänien für den deutschen Bevölkerungsteil unerträglich wurde, sie­delte er 1977 zusammen mit seiner Frau, der Textilkünstlerin Eva Fabritius, in den Westen über und ließ sich im Stuttgarter Raum nieder. Dort entstand in den folgenden Jahren in der Technik des Holzschnitts eine Serie lebensgroßer expressiv aufgefass­ter Figurenbilder, die im Über­einan­der­druck verschiedener Plattenzustände und Farben Tiefenräume menschlicher Seelen­zustände offenbarten. Es folgten ab 1983 eben­so große Zeichnungen nackter, aber viel­fach überzeichneter menschlicher Fi­gu­ren, die sich in Gruppen einander zu- oder voneinander abwandten und die rang- und rollenlos „nackte“ menschliche Existenz verkörperten („Segelzustände“, 1983-85).

Seit der Mitte des Jahrzehnts begann der Künstler, seine großen Figurenholzschnitte mit schwarzer und farbigen Kreiden und Weißhöhungen zu übermalen und mit roter Farbe zu übersprühen. Sah er in der körperlichen Arbeit am Holz wie vor ihm die Expressionisten unmittelbaren seelischen Ausdruck, so verkörperte sich in den gestischen Übermalungen wie bei den Künstlern des Informel das Unbewusste der menschlichen Psyche. Er griff Themen der christlichen Mythologie („Hochzeit zu Kanaan“, 1987) und der Antike („Jason und Medea“, 1992) auf, die er – wie Künstler der ersten Nachkriegszeit – als paradigmatisch für Grund­probleme der menschlichen Existenz empfand. 1988/89 reagierte er mit einem Mappenwerk zum „Totentanz“ des modernen Menschen auf die sich in Umwelt­zer­stö­rungen, politischen Wirren und globalen Seuchen manifestierenden Bedrohungen. Bewusst stellte er sich mit dem in Holz geschnittenen Zyklus in die Tradition religiöser und politischer Graphik, die seit dem Mittelalter alle Jahrhunderte hindurch in der Technik des Holzschnitts und häufig mit Darstellungen des „Totentanzes“ auf End­zeit­stimmungen reagierte.

Ab 1992 ersetzte Fabritius wiederum in groß­­formatigen übermalten auf Bütten oder Leinwand gedruckten Farbholzschnitten die menschliche Figur durch Symbolformen. Stühle standen seitdem als Memento für alles, was den Menschen in seiner Existenz betrifft, und als Repräsentanten für geistige und weltliche Macht. Oder sie bedeuteten ganz konkret die Ende des 19. Jahrhunderts aufgelösten Verwaltungseinheiten („Stühle“) der Siebenbürger Sachsen, die sich seitdem und bis heute zu Chiffren für deren Freiheit, Selbstbestimmung und kulturelles Gedächt­nis verfestigten.2 1996 begann er, aus verwendeten Druckstöcken Stelen und Stuhl­objekte zu bauen, die, auf lange Längs­holme montiert und mit einer Treppenstufe verbunden, auch als Sänfte, Kniebank und Lesepult denkbar waren („Transportable Heimat“, 2000). Es entstanden wandfüllende Tableaus aus bis zu vierzehn in unterschiedlichen Ausschnitten gedruckten Holz­schnitten, bei denen es schien, als würden Stühle aus dem Himmel herab schweben, von denen zuerst nur die Beine, dann der mittlere Teil und schließlich der Stuhl in seiner ganzen symbolischen Vollendung sichtbar wurden („Guten Morgen lieber Stuhl“, 1996/97).

Nach einer Serie von Zeichnungen mit Schif­­fen, die nach langer Reise auf dem Trockenen liegen und die er mit Baken, Stühlen, Hütten, Leitern – alles Symbole für das Besetzen eines neuen Standorts, das Abstecken eines neuen Gebiets, Gründen neuer Existenz, Emporklimmen zu neuen Ufern, „Chiffren des Menschlichen“3 – konfrontierte, schuf der Künstler ab 2000 einen Zyklus von Booten, Schiffen, Archen, ­wieder großformatige über- und untermalte und collagierte Holzschnitte als Ein­mal­drucke, den er 2004 im Altonaer Museum in Hamburg unter dem Titel „Mutmaßungen über die Arche – Denn wir sind nur das, was wir nicht vergessen haben“ zeigte. Seine Archen bargen Erinnerungen, Kulturgut, und waren Symbole für das kulturelle Gedächtnis, das den Menschen erst zu einem denkenden, fühlenden, sozialen und überhaupt existenten Wesen macht. Dass diese Archen, die er wieder mit Himmels- oder Jakobsleitern und Stühlen instrumentierte und die zahlreiche literarische Assoziationen wie Jasons Ausfahrt mit den Argonauten, die Sintflut der Bibel und des Gilgamesch-Epos, Nietzsches „Schiff der Menschheit“ und vieles mehr mit sich führten4, auch „Heimat“, den „Mythos Heimat“, die verlorene Heimat Siebenbürgen verkörperten, sollte sich erst später konkretisieren.

Bis 2004 kehrte der Künstler zur figürlichen Darstellung zurück, die sich zunächst in gezeichneten und gemalten Tagebüchern und erneut in mythologischen Gestalten manifestierte. Immerwährende und bis heute variierte Motive sind Minotauros und Sisyphos, deren Geschichten bekanntlich nie enden: Minotauros, halb Mensch, halb Tier, wurde für den Fehltritt seiner Mutter mit einem hölzernen Stier zu einem Leben im Labyrinth verdammt. Sisyphos, der un­befugterweise Pluto, den Gott der Unter­welt, zweimal überlistete, bestraften die Götter mit der niemals endenden Mühe, einen Felsen auf einen Berg hinaufzuwälzen, damit dieser stets wieder herabrollt. Es liegt auf der Hand, dass die privaten Auf­zeichnungen, die am Feierabend nach dem Dienst als Kunstlehrer entstanden und die der Künstler erst nach Vollendung von zwanzig Bänden in einer Buchauswahl der 2004 entstandenen Zeichnungen dem Pub­likum zugänglich machte5, die Mühsal des eigenen Lebens beschreiben. Auch Apho­rismen und Literaturzitate, die den 35,5 mal 53 Zentimeter messenden Doppel­seiten beigegeben sind, deuten darauf hin. Doch der Künstler zeichnet mit derart sicherem, schnellem Graphitstrich satirisch zugespitzte und mit reinem Rot, Blau, Gelb und Grün in Öl und Acryl kraftvoll kolorierte Ge­schichten seiner beiden Protagonisten, dass der bildmäßige und allgemein gültige Cha­rakter jeder Doppelseite schnell überwiegt.

Anders als in der antiken Mythologie be­geg­nen sich bei Fabritius Minotauros und Sisyphos. Der Stierköpfige jongliert mit Si­sy­phos’ Stein, stützt sich auf ihm ab, blickt verächtlich auf ihn herunter, gähnt uns früh­jahrsmüde an, balanciert ein Schiff auf hoch erhobenen Armen und traut dabei keiner guten Nachricht. Er klettert auf eine Leiter und betrachtet über die Schulter hinweg seine Großfamilie, streckt in An­be­tracht des schwebenden Steins die Zunge heraus und uns das Hinterteil entgegen. Minotauros entpuppt sich als Berserker und widersetzt sich mit vorgestreckten Hörnern seinem Schicksal. Sisyphos hingegen nimmt das Leben leicht: Wenn er auf dem Berg steht und dem gerade wieder herunter rollenden Stein nachsieht, dann „freut er sich erst einmal über die schöne Aussicht,“ wie Fabritius später zu Protokoll gibt.6 Zu­sam­men sind sie zwei Seelen in der Brust des Künstlers und treten gelegentlich auch als Mischwesen „Minosisyphos“ auf. Sie ver­körpern die „Auseinandersetzung des in den Grenzen seiner Existenz gefangenen Men­schen mit den Unwägbarkeiten des Lebens, mit dem Sinnlosen, ja Wider­sin­ni­gen im Alltag“7, jenes Spannungsverhältnis zwischen der Sinnwidrigkeit der Welt und der Sehnsucht des Menschen nach Sinn in seinem Leben, das Albert Camus – auf den sich Fabritius ausdrücklich bezieht – in seinem Essay „Der Mythos des Sisyphos“ (1942), dem grundlegenden Werk zur Philosophie des Absurden, beschreibt.

Ab 2004 übertrug Fabritius Szenen, in denen Minotauros, Sisyphos und auch der Künstler selbst nebeneinander agieren, auf große auf Leinwand gedruckte und übermalte Holzschnitte. Die satirische Über­spitzung der Tagebuchzeichnungen wich einer Vereinsamung der Figuren, die allein, zu zweit und als Spiegelbild oder wie dieselbe Person in verschiedenen Phasen eines Bühnenstücks agieren. Minotauros begegnet uns in zwei durch eine Leiter getrennten Zuständen, dem Betrachter zu- und abgewandt, schwebt ein anderes Mal zum Sprung bereit über einer Leiter, in einer anderen Version über dem in einem durchlöcherten Stuhl gefangenen Selbstbildnis des Künstlers. Er begegnet auf einem Diptychon (links) seinem Ebenbild mit gestutzten Hörnern und (rechts) Sisyphos, der ein Leiter-Stein-Haus in verschränkten Händen auf dem Rücken trägt. Sisyphos erklimmt Leitern, auf denen Luftballons Sehnsüchte und Trugbilder symbolisieren, und trägt auf der selben Bildfläche einen schweren Fels. Er sitzt sinnend auf einem Stein und greift gleichzeitig fluchtartig nach dem Licht einer im Raum schwebenden Lampe. Er lässt sich (auf einem Triptychon links) vom Trugbild des mit Stühlen bemalten Luftballons blenden, tanzt (mittig) auf einem Stein und trägt den schweren Fels mit sich fort und beobachtet (rechts), wie Steine hinter der Leiter, die er gerade erklimmen will, wieder herabstürzen. (Siehe auch Galerie per-seh „Begeg­nun­­gen“, Ausstellungskatalog 2007: „Der Sprung“).

Hommage „À Camus“ (2005), „Wir erzählen unser Universum“ (2006) oder „Flucht – Sehn­sucht“ (2006) sind die Titel der im Grunde immer gleichen absurden Ge­schich­te des Lebens, in der Sehnsucht nach ­Hei­­mat, Er­leuchtung, Erkenntnis und Glück von Müh­sal und ewigem Scheitern abgelöst werden. Es sind Variationen, in denen der Künstler Druckstöcke derselben Figur zu neuen Szenen und altarähnlichen Tableaus zu­sam­menfügt als wolle er – wie die Wan­del­altäre des Mittelalters – die Erkenntnis der Welt mit großen Figuren, starken Farben und szenarischen Varianten lehrhaft vermitteln. Die Nähe zu Bildern christlicher Legenden ist nicht allzu weit hergeholt. Denn 2006 schnitt Fabritius die auf einem Boot stehende Figur des „Ahasver“ in Holz, die nach christlichen Legenden des 13. Jahrhunderts jener arme Schuster ist, der Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung verspottete und daraufhin verdammt wurde, bis in alle Ewigkeit ruhe- und heimatlos auf der Welt umher­zu­irren. Nach dem Gedicht des aus dem ru­­nischen Czernowitz stammen­den jüdischen Dichters Immanuel Weiß­glas (1920-1979), auf das sich Fabri­tius bezieht,8 ist er der ewige Fremde, der vom Erzengel „aus fremder Heimat in die Heimatfremde“ vertrieben wird. In Fabritius‘ mythologischer Welt ist er neben Minotauros und Sisyphos ein weiterer Getriebener, der in rastloser Tätigkeit vor dem Trugbild immer neuer Hoff­nungen sein Leben fristen muss.

Weitere große Figuren kamen in den letzten Jahren hinzu. 2008/10 schuf der Künstler das Bild eines Tanzenden vor einem Boot, Sinnbild für Ausfahrt und Lebensweg, Ab­fahrt und Ankunft, der dem früheren Sisy­­phos ähnelt, jetzt aber weder Stein­trä­ger noch Minotauros ist, obwohl Fabritius das Bild mit dem Titel „Dem Absurden ins Auge sehen“ Camus widmete. 2010 entstand ein Selbst­bildnis des Künstlers, das dieser unter dem Motto „Yes I can“ aus einem Druck­stock und zwei (spiegelbildlichen) Ab­drucken zu einem Triptychon zusammenfügte. 2011 er­blickten Adam und Eva das Licht der Welt, die sich unter dem Titel „Ursprung“ als ge­druckte und übermalte Holz­schnitte in ­Ges­tik und Körperhaltung einander zu- und gleichzeitig voneinander abwenden; als Objekt „Fahne“, das aus den beiden dazu ge­hörenden Druckstöcken montiert ist, verkünden sie ewiges Lebens­prinzip. 2011 kamen große Holzschnitte mit grau und rot ge­druckten „lebensgroßen“ Engeln hinzu, die sich zu einer mehrteiligen Installation aus Drucken, Druckstock und Objekt unter dem Titel „Mythos Heimat“ gruppieren. 2012 entstand unter dem Titel „Allein mit sich“ die fast lebensgroße in sich versunkene Fi­gur eines Wanderers, die mög­licherweise auch ein Selbstporträt des Künst­lers ist. Fabritius, der seine Themen schon früher wechselnd aus der antiken und christ­lichen Mythologie und eigenen Be­find­lich­keiten schöpfte, stellt jetzt in schneller Folge große Figuren aus allen drei Themenkreisen einander gegen­über. Zu­sam­men sind sie Re­präsentanten eines allgemein gültigen exis­tentialistischen Welt­entwurfs, der sich aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit speist.

Kollektives Gedächtnis verkörpern auch jene vierzig in Holz geschnittenen Por­träts, die der Künstler 2009 für eine Wand­­instal­lation im Chor der Leon­hards­kirche in Stuttgart in Holz schnitt und auf 50 mal 50 Zentimenter große Lein­wände druckte.9 Es sind Menschen, die große Leis­tungen verkörpern und die Fabritius beeindruckten, wie Herta Müller, Pina Bausch, Oskar Pastior oder der ebenfalls aus Sieben­bürgen stammende Bildhauer Ingo Glass, solche aus seinem privaten Umkreis wie seine Frau Eva Fabritius, der Künstler selbst oder Men­schen, die als „Stuttgarter Kopf“ Un­be­kann­te für uns bleiben. In der Instal­lation er­scheinen sie auch spiegelbildlich und auf dem Kopf stehend, konfrontiert mit leer blei­benden Tafeln und einem Bildnis des Todes, um so zu allgemein gültigen Dar­stellungen des Menschlichen, zu „Eben­bil­dern Gottes“ zu werden, die als Reprä­sen­tanten der ­Men­schheit und der Gemeinde vor den Altar treten. (Siehe auch Galerie per-seh „Über Kopf“, Ausstellungskatalog 2010).

Die Porträts der Stuttgarter „Eben-Bild“-In­stalla­tion erschienen auch in den großen Retrospektiven 2010 im Kleinhues-Bau in Kornwestheim10 und 2011 im Donau­schwä­bischen Zentralmuseum in Ulm11 einzeln und in neuen Reihen und Gruppierungen. In der Konfrontation mit den Figuren der antiken und christlichen Mythologie wird um so deutlicher, dass der einzelne persönliche Lebensentwurf Teil eines Jahr­tausende alten kollektiven Gedächtnisses der Menschheit und sich wiederholender Grund­muster des Menschlichen ist. Die Gesamt­schauen in Korn­westheim und Ulm waren mehr als die üblichen historischen Rück­blicke auf das Gesamtwerk eines Künstlers. Holzschnitte, Druck­stöcke und Tagebuch-Zeichnungen, frühe zeichenhaft-symbolische Arbeiten wie die Serie der Stuhl-Holzschnitte („Guten Morgen lieber Stuhl“, 1997), Boote, Archen und Leitern konfrontierte Fabritius an ge­genüber liegenden Wänden mit den großen mythologischen Figuren und Selbst­porträts zu einer einzigen großen Raum­in­stallation. Neue Objekte aus Druck­stöcken, kombiniert mit altem Wa­gen­rad, Pferdegeschirr und Chorgestühl, verstärkten die Assoziationen an heimatliche Relikte. Aus Holzschnitt-Porträts und Arche entstand ein neues Triptychon („Glück­liches Boot“, 2009). Der Künstler hält nicht nur Rückschau auf sein gesamtes Werk. Er macht deutlich, das jede einzelne Arbeit Teil des Lebenszyklus ist, dass sich alle Zeichen, Mythen, menschlichen Ant­litze, privaten Reflexionen und Litera­tur­zitate aufeinander und gemeinsam auf Jahr­­tausende alte Grundprinzipien des Lebens beziehen.

In der Rückschau des Künstlers hat das Pro­blem „Heimat“ immer stärker an Ge­wicht gewonnen. Zur unstillbaren Sehn­sucht tritt jedoch die Erkenntnis hinzu, dass beide, Heimat und Sehnsucht, zum Mythos geworden sind. Heimat aufgrund von Er­fah­rungen, Begegnungen und Bildern als „geis­tigen Ort“, „wandelbaren und veränderbaren Zustand“ zu erfahren, bezeichnet Fa­britius als seinen persönlichen Mythos.12 Um Vereinnahmungen zu entgehen, betont er, dass Heimat für ihn dort ist, „wo die Kul­tu­ren und auch die Sprachen des alten Europas unabhängig der nationalstaatlichen Grenzen fassbar sind“.13 Fabritius ist ein politischer Mensch. Immer wieder re­flek­tierte er in Holzschnitten („Zapfen­streich“, 1994) und satirischen Zeichnungen („Deutsche Befindlichkeiten I-IV“, 1999/2001) den schwierigen Umgang der Deutschen mit ihren nationalen Symbolen: der Fahne, der Sprache und dem Brandenburger Tor. Bei der Reflexion des Begriffs „Heimat“ hätte es so viel an „Political Correctness“ vielleicht gar nicht bedurft: Viele der in Deutschland be­heimateten Migranten aus zahlreichen Län­dern hätten schneller als die meisten Deut­schen ein Statement zum Begriff „Hei­mat“ parat, dass sich von Fabritius‘ Ein­schät­zungen gar nicht so sehr unterscheidet.

2012 sind in der aktuellen Ausstellung große Figurenbilder hinzugekommen. Es sind weitere Minotauros- und Sisyphos-Szenen: eine Einzelfigur, die sich auf Günter Grass und Oskar Pastior bezieht, ein Ritt rücklings auf einem Pferd mit einem Adam-und-Eva-Motiv, ein verhalten abwehrender Mann im Mond, dessen Holzstock von einem früheren Sisyphos-Triptychon („Das große Glück“, 2006) stammt. Den Be­trach­tern sind jetzt hinreichend Möglichkeiten zur Interpretation an die Hand gegeben, so dass Spielraum für eigene Reflexionen bleibt. Die großen Sisyphos-Zeichnungen „Wo warst du?“ und „Wuni ich gon af de Bräck“ reflektieren das „Heimat“-Thema; denn sie zeigen den Protagonisten Purzel­baum schlagend und in heftigen Sprüngen über dem Stein, während er seine Heimat verliert: „Wann kehre ich wieder zurück? Wenn die Raben weiße Federn haben.“ Skizzen­buchblätter zei­gen eindrucksvoll, dass sich der Künstler zunächst satirisch und mit schnellem Strich seinem Thema nähert, um es später mythologisch auszubauen. Skizzen und Tagebuch-Zeichnungen aus zurückliegenden Jahren variieren die Geschichten von Minotauros und Sisyphos. Neu sind hingegen Zeich­nun­gen mit Adam-und-Eva- oder Ehe­mo­ti­ven, die das Mensch­heitspaar bei der Wan­derung durchs Watt oder auf dem Weg des Lebens zeigen oder in denen sich der Künst­ler als „Watttänzer“ einsamen Re­fle­xio­nen hingibt. Wir dürfen gespannt sein, ob Gert Fabritius auch sie zu großen mythologischen Figuren verarbeiten wird.

Axel Feuß

 

 

 

 

1          Axel Feuß: Gert Fabritius – Holzschneider und Zeichner, in: Lovis-Corinth-Preis, Ausst.-Kat. Museum Ostdeutsche Galerie, Regensburg 1997, S. 67-104

2          Irmgard Sedler: Exkurs „Sieben Stühle“, in: Ausst.-Kat. Gert Fabritius. Arche und Tod – Widerschein des Seins, Museum im Kleinhues-Bau, Kornwestheim 2007, S. 15-21

3          Stuhl, Barke und Leiter – Chiffren des Menschlichen, in: Ausst.-Kat. Gert Fabritius. Dem Absurden ins Auge sehen, hrsg. von Irmgard Sedler, Museum im Kleinhues-Bau, Kornwestheim 2010

4          Günter Baumann: Gert Fabritius – Arche und Tod, in: Ausst.-Kat. Gert Fabritius 2007 (s. Anm. 2), S. 4-10

5          Gert Fabritius: Zu Sisyphos.

Tagebuch auf-Zeich­nungen eines Unbefugten, Eigenverlag, Ostfildern-Ruit 2005

6          Ausst.-Kat. Gert Fabritius.

Dem Absurden ins Auge sehen 2010 (s. Anm. 3), S. 4

7          Irmgard Sedler: Dem Absurden ins Auge sehen, ebd.

8          Immanuel Weißglas: Ahasver, aus „Der Nobiskrug“, 1972. Vgl. Ausst.-Kat. Gert Fabritius – Arche und Tod 2007 (s. Anm. 1), S. 58.

9          Ausst.-Kat. Fabritius. Eben Bild, Leonhardskirche Stuttgart, 2009

10         Ausst.-Kat. Dem Absurden ins Auge sehen, 2010 (s. Anm. 3)

11         Ausst.-Kat. Mythos Heimat. Heimat im Mythos, Donauschwäbisches Zentralmuseum, Ulm 2011

12         Gert Fabritius: Schnittpunkt Heimat, Vortrag, Klausenburg 2012, Manuskript

13         Ebd.